Josef Quack

Karl May, wieder gelesen
"Der schwarze Mustang"




Karl May (1842-1912) war ein faszinierender Geschichtenerzähler, ein Naturtalent in diesem Fach, ein Mann mit Witz und Humor und einer blühenden Phantasie, der er schließlich selbst zum Opfer fiel. Mit den Jahren glaubte er, die Abenteuer, die er beschrieben hatte, selbst erlebt zu haben.

Alle seine Vorzüge finden sich in der 1896 erschienenen Reiseerzählung Der schwarze Mustang (Text nach der historisch-kritischer Ausgabe, Augsburg 2003) in mustergültiger Form wieder. In dieser Geschichte geht es um einen drohenden Überfall auf ein Arbeitslager der Eisenbahn in Colorado. Der Anschlag wird von den Komantschen unter der Führung des Schwarzen Mustangs, ihres Häuptlings, geplant. Ihm stehen auf Seiten der Weißen Old Shatterhand und Winnetou gegenüber, die die Abwehr leiten und organisieren.

Wie alle Karl-May-Leser natürlich wissen, ist Old Shatterhand ein treffsicherer Schütze, ein Mann von körperlicher Stärke, hoher Intelligenz und moralischer Integrität. Er besiegt seine Gegner und Feinde weniger durch Gewalt als durch List und Schläue. Er durchschaut ihre Pläne und kommt deren Ausführung zuvor. Er ist ein gesunder, kräftiger, sprachbegabter, kluger, edler Mann. Der vollkommene Mensch, das rechte Vorbild für jugendliche Leser, aber nicht nur für jugendliche Leser.

Denn ich bin der Meinung, daß die Literatur, sowohl die reinen Unterhaltungsromane wie die ambitionierten Romane der Bildung, nicht nur „die elende Beschaffenheit der Menschennatur“ (Arthur Schopenhauer) darstellen sollte, sondern auch die Ideale des Menschen sowie den an Leib und Geist fehlerlosen, glänzend begabten Menschen, den vollkommenen Menschen.

Der gleichen Ansicht war auch Raymond Chandler, schreibt er doch über Philip Marlowe, den Helden seiner Detektivgeschichten: „Aber durch diese schäbigen Straßen muß ein Mann gehen, der selbst nicht schäbig ist, der eine reine Weste hat und keine Angst. Der Detektiv in dieser Art Story muß so ein Mann sein. Er ist der Held; er ist schlechthin alles. Er muß ein ganzer Mann sein und ein gewöhnlicher Mann – und zugleich doch ein ungewöhnlicher auch. Er muß, um einen ziemlich abgedroschenen Ausdruck zu gebrauchen, ein Mann von Ehre sein, aus Instinkt, ohne Worte darüber. Er muß der beste Mensch auf der Welt sein und ein Mensch, der gut genug ist für jede Welt.“ Gewiß bekämpft Philip Marlowe die Verbrechen der Gesellschaft seiner Zeit, im letzten Grunde aber bekämpft er die Verlogenheit und moralische Verkommenheit der Gesellschaft seiner Zeit.

Karl May schreibt ein klares, solides Deutsch. Mir scheint, daß er die Grammatik des Deutschen besser beherrscht als mancher Gegenwartsautor der angeblich hohen Literatur. Man findet bei ihm wohlkonstruierte Sätze der apartesten Sorte, wie den folgenden Satz in Futur II über einen verdächtigen Mestizen: „Würde er geflohen sein, wenn er es nicht wäre?“ (S.87)

Als routinierter Erzähler versteht May es, mittels des Perspektivenwechsels Spannung zu erzeugen. Der Roman beginnt mit dem Ritt zweier baumlanger, spindeldürrer Gestalten, die sich fremd sind, dann aber herausfinden, daß sie Verwandte sind – worauf die Ähnlichkeit ihrer Statur natürlich schon hindeutet. Sie treffen im Arbeitslager überraschend den berühmtesten Helden des Westens und schließen sich ihm an. Das letzte Kapitel beschreibt die Taten des bedrängten Schwarzen Mustangs, und mitten in der Nacht taucht Old Shatterhand buchstäblich von oben, nämlich sich von der Felswand abseilend, im Lager der Indianer auf. Er wird meist von außen geschildert, aus der Sicht seiner Freunde oder Feinde, was glaubwürdiger ist als jedes Selbstlob, geschildert aus der Innenperspektive des Mannes.

Die edelste Gabe Old Shatterhands, die hier am schönsten zur Sprache und Darstellung kommt, ist sein Sinn für Gerechtigkeit. Er tritt mehrmals geradezu als Richter auf, als völlig unparteiischer, humaner Richter. Er sagt: „Wir können Justiz üben, ohne grausam zu sein“ (S.91), und als ein Vorarbeiter die Absicht äußert, die gefangenen Indianer zusammenzuschießen, entgegnet er: „Wir sind doch Christen und also keine Massenmörder“ (S.228). Er behauptet, mit jedem seiner Brüder zu fühlen, „gleichviel, ob er von weißer oder roter Farbe ist“ (S.97), und versichert: „Jeder Mensch hat seinen Wert“ (S.305). Es ist von seiner „bekannten Humanität“ die Rede und davon, daß man ihn „den Gerechtesten unter allen Bleichgesichtern nennt“ (S. 156).

Dem scheint nun aber der Einwand zu widersprechen, daß in dem Roman ein rassistisches Vorurteil gegen Mischlinge zum Ausdruck komme. Nun stimmt es zwar, daß Old Shatterhand gegenüber einem Mestizen sagt, man wisse, „daß ihr halbblütigen Menschen nur die schlimmen Eigenschaften eurer Eltern erbt“, er behauptet dies aber vor allem, um den Verdächtigen auszuforschen (S.156). Richtig ist auch, daß es im Text, im Tone des objektiven Erzählers, heißt: „Er war, wie die Mischlinge fast alle, kein vertrauenswürdiger Mensch“ (S.268), so als seien nur reinrassige Menschen von Natur aus vertrauenswürdig und die Loyalität eines Menschen eine Sache des Blutes und nicht der geistigen Entscheidung. Ein Westmann hegt das gleiche Vorurteil gegen alle Mischlinge, die er für verräterischer und treuloser hält „als die reinblütigen Indianer“. Dem widerspricht aber sein junger Kollege energisch mit den Worten, daß man auch den Mestizen ehrlich und gerecht behandeln müsse: „Wenn ihr nicht rechtlich mit dem Mestizen verfährt, ja, dann ist es eine Drohung.“ (S.290)

Man wird also nicht pauschal sagen können, daß der Roman oder der Autor ein rassistisches Vorurteil gegen Mischlinge hege. Auch sie haben, wenn man den Text genau nimmt, nach der Intention des Romans eine gerechte Behandlung verdient.

Dagegen ist es nicht leicht zu entscheiden, ob im Roman nicht doch die damals herrschende, rassistisch gemeinte Geringschätzung der Chinesen kritiklos übernommen wurde. In der Tat werden die bei der Eisenbahn beschäftigten Chinesen im Laufe der Handlung als feige dargestellt, was jenes Vorurteil zu bestätigen scheint. Ähnlichen Sinnes urteilt der leitende Ingenieur über seine chinesischen Arbeiter: „Diese Burschen sind alle Halunken, vom ersten bis zum letzten. Sie stehlen nur dann nicht, wenn es nichts zu stehlen gibt“, und beabsichtigt, zwei chinesische Diebe totzuprügeln (S.91). Dem stellt sich aber Old Shatterhand entgegen, indem er die Diebe dadurch bestraft, daß er ihnen die Zöpfe abschneidet. Nach seiner Ansicht ist dies für ihresgleichen ein Zeichen der Schande und Ehrlosigkeit.

Old Shatterhand, der hier zur allgemeinen Überraschung auch Chinesisch versteht, und sein Autor, der gewöhnlich über die fremden Kulturen, die er beschreibt, gut informiert ist, scheinen nicht zu wissen, daß der Zopf ein vorgeschriebenes Zeichen der Anerkennung der damals in China herrschenden fremden Mandschu-Dynastie war. Auch haben sie offensichtlich nichts von dem Taiping-Aufstand (1850-64), einem blutigen Bürgerkrieg, gehört, in dem sich die Rebellen zum Zeichen ihres Widerstandes gegen die Zentralmacht die Zöpfe abschnitten und als Langhaarige auftraten. Erwin Wickert hat darüber einen sachkundigen Roman geschrieben: Der Auftrag des Himmels (1979; cf. J.Q., Lesen um zu leben, S.108f.).

Was aber die Charakterisierung der Chinesen im Roman angeht, so kann man auch mit Siegfried Augustin, der das instruktive Vorwort beigesteuert hat, der Meinung sein, Karl May habe aus rein formalen Gründen, wegen der Spannung und des Kolorits, die beide auf Gegensätzen beruhen, die Chinesen negativ gezeichnet. In Wirklichkeit wurden sie beim Eisenbahnbau wegen ihrer Tüchtigkeit und Geschicklichkeit hoch geschätzt, aber auch als Konkurrenten beneidet.

Es gibt so etwas wie ein literarisches Gesetz, was man auch als die Erwartung des Lesers bezeichnen könnte, daß in einer Abenteuererzählung immer auch eine lustige Person vorkommen müsse. Karl May hat dieses Gesetz immer gerne befolgt und seine Romane mit einer Reihe humoristischer Gestalten bevölkert. Die wohl witzigste Gestalt seines ganzen Werkes aber ist Heliogabalus Morpheus Edeward Franke, genannt Hobble-Frank, der im Schwarzen Mustang seinen letzten Auftritt hat.

Er hat die witzige Rede dadurch zur hohen Kunst entwickelt, daß er ein Rezept erfunden hat, systematisch Unsinn zu reden. Es besteht darin, daß er die seltensten Fremdwörter gebraucht, sie aber immer falsch verwendet. Auch zitiert er gerne lateinische Sprüche, aber immer nur halb richtig, und schließlich spricht er gerne sächsisch, die Komik dieser Mundart betonend und ausnutzend. Wenn man ihn auf seine Fehler hinweist, wird er fuchsteufelswild und antwortet mit einer Suada gesteigerten Unsinns.

Seine Rede ist eine großartige Parodie des damaligen, mit aller Strenge eingepaukten Schulwissens, eine glänzende Satire auf die gymnasiale Bildung, und nicht zuletzt ein selbstironisches Lob der sächsischen Sprechweise. Selbstironie aber war das letzte, was ich von Karl May erwartet hätte.

Hobble-Frank spricht von der „Kalenderregel“: „Veni, vidi, mardi midi, oder für diejenigen, die nich Griechisch verschtehen: Ich kam und sah und siegte Dienstags um die Mittagszeit“ (S.120). Der verballhornte Spruch stammt von Cäsar. Veni, vidi ist lateinisch, mardi midi französisch. Franke bringt den Kalauer: „Was kein Verschtand der Verschtändigen sieht, das merkt ein Rheumatiker, wenn es zieht“ (S. 316), und kommentiert einen schwierigen Vorschlag mit den sinnigen Worten: „Das klingt so eenfach und selbstverständlich, als wenn die Köchin im Hotel Bellevue von der Katze sagt: Erst abgeschtochen, dann braungebraten und nachher als Hase offgefressen! Wünsch guten Appetit, meine Herren!“ (S.196) Das aber ist nichts anderes als eine genaue Paraphrase des russischen Sprichwortes: „Für einen Hasenbraten braucht man wenigstens eine tote Katze“, und Karl May hat damit bewiesen, daß er das hintersinnige, schwer zu erklärende Sprichwort richtig verstanden hat (cf. J.Q., Lesen um zu leben, S.191.).

In dem Roman beklagt May schließlich, daß der Wilde Westen mit den Horden der wilden Büffel und Mustangs verschwunden sei und mit ihnen die „kühnen Gestalten der roten Krieger und weißen Westmänner“, namentlich: Old Firehand, Old Surehand, Sam Hawkens, Gestalten seiner eigenen Romane. Auch der noch lebende Old Shatterhand sei fast zur Mythe geworden, und er sagt von den damaligen Heldentaten, daß man sie „getrost mit den Taten der homerischen Helden vergleichen“ könne (S.223).

Damit scheint sich Karl May selbst mit Homer zu vergleichen, ein wohl kaum mehr zu überbietendes Selbstlob. Ich bin mir dessen aber gar nicht sicher, nehme vielmehr an, daß May dies mit einem wissenden Augenzwinkern der Selbstironie gesagt hat und sich naiver gibt, als er tatsächlich ist.

Übrigens steht Old Shatterhand in puncto Angeben und Aufschneiden im modernen Abenteuerroman keineswegs allein da. Von James Bond heißt es einmal, daß er es nicht gerne mit Chinesen zu tun bekam: „Es waren ihrer zu viele“. Damit meint er, er müsse tatsächlich die Millionen Chinesen alle im Einzelkampf besiegen, was selbst für ihn nicht leicht sei. Ein extremer Gegensatz zum englischen Understatement.

P.S. über Winnetou I

In Winnetou I (1893) schildert Karl May die Ankunft Old Shatterhands im amerikanischen Westen: wie er als Greenhorn die kühnsten Taten vollbringt, nach gefährlichen Begegnungen Winnetou kennenlernt und sein Freund wird. Dies alles wird aber von Old Shatterhand selbst erzählt. So stand Karl May hier vor dem erzähltechnischen Problem, wie ein Held seine außergewöhnlichen Taten selbst erzählen kann, ohne den Eindruck eines unsympathischen Angebers zu machen.

May hat mehrere Kunstgriffe angewandt, um diesen fatalen Eindruck auf den Leser zu verhindern. Zunächst, Old Shatterhand spricht im Ton der Bescheidenheit und läßt seine Taten von erfahrenen Westmännern fachmännisch-kritisch bezeugen. Vor allem aber vollbringt er seine Heldentaten nicht, um zu renommieren — wie viele typische Yankee-Figuren im Western-Film —, sondern um sein Leben zu verteidigen oder um seine Freunde aus der Gefahr zu retten. Nicht zuletzt zeigt der Roman den Protagonisten auch im Zustand der Schwäche und Ohnmacht, als Schwerverletzten im Wundfieber.

Karl May aber wußte, daß diese Kunstgriffe nur dann wirken, wenn die Abenteuer, die er schildert, so spannend sind, daß sie die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln und ihm die Taten des Helden als sinnvoll und glaubwürdig erscheinen lassen. May kannte das Grundgesetz aller Literatur, daß es zuerst und zuletzt darauf ankommt, ob der Autor überhaupt etwas zu sagen hat. Im Falle der epischen Literatur bedeutet dies, ob er eine interessante Geschichte zu erzählen hat.

Übrigens gibt es noch eine dritte Möglichkeit, bei einem Roman in der Ich-Form den unangenehmen Eindruck der Angeberei zu vermeiden, nämlich den Trick, daß der Ich-Erzähler im Stil Münchhausens seine Taten maßlos oder witzig oder selbstironisch-geistreich übertreibt. Karl May hat zwar nicht seine Hauptperson diese Methode befolgen lassen, wohl aber seine Nebenfiguren. In jedem seiner Roman tritt eine Figur auf, von der man sagen kann, sie sei „ein sehr scherzhafter Mann, aber doch ein tüchtiger Jäger“ (Winnetou I, München 1976, 216).

Ich möchte diesen Roman, der in den Augen der Kenner und Liebhaber bekanntlich Mays schönstes und sein am besten gelungenes Werk ist, hier nicht ausführlich besprechen, sondern nur auf eine Sache hinweisen. Landschaften interessieren den Erzähler nur als mögliche Wege für die Eisenbahn oder als mögliche Kampfplätze. Berge, Täler, Flüsse und Ebenen betrachtet und beschreibt er nur unter dem Gesichtspunkt, welche Vor- und Nachteile sie als Orte eines Überfalls oder eines Verstecks haben könnten. Wie mir scheint, macht May damit aus der Not, daß er Gegende beschreibt, die er aus eigener Anschauung ja nicht kennt, eine Tugend. Dies ist aber nicht der geringste Punkt, in dem er sich von James Fenimore Cooper unterscheidet. Für Cooper haben die Landschaften der damaligen amerikanischen Wildnis, die es natürlich längst nicht mehr gibt, einen Wert an sich. Sie sind großartige Gestalten der gewaltigen, erhabenen Natur. "Aber herrlich leuchtet die Natur" — dieser Vers Goethes drückt die Stimmung Coopers, nicht die Haltung Mays aus.

Mays persönliche Tragik, die zweifellos eine Folge seiner Erzählweise in der Ich-Form war, bestand darin, daß er in späteren Jahren nicht mehr zwischen Spiel und Ernst unterscheiden konnte und sich selbst für Old Shatterhand hielt. Er wurde ein Opfer seiner eigenen Erzählkunst.

J.Q. — 7./12. Aug. 2021

© J.Quack


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