Josef Quack

Erbauliches Geplauder
Zum Buch über die Kirche von Walter Kasper





Die Theologie – die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.

W. Benjamin

Dieses Werk, Walter Kardinal Kasper, Katholische Kirche (Freiburg 2011), ist eines der enttäuschendsten theologischen Bücher, die ich je gelesen habe. Dies ist umso ärgerlicher, als der Autor ja kein beliebiger Theologe ist, sondern ein hochrangiger Vertreter der Kirche und professioneller Theologe, ehemaliger Dogmatik-Professor und ehemaliger Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Seine Ausführungen in diesem Werk sind aber gelegentlich eine Zumutung für den Leser, wenn nicht gar eine Beleidigung seiner Intelligenz. Dafür ein paar Belege, die ebenso abwegig wie überwältigend sind, so daß ich auf die weitere Besprechung des 586-seitigen Wälzers verzichtet habe.

♦ 1. Ende der siebziger Jahre brachte Walter Jens einen Sammelband heraus, in dem prominenten Christen verschiedener Konfessionen, Theologen, Wissenschaftlern, Politikern, Publizisten die Gretchen-Frage der Religion gestellt wurde, „warum ich Christ bin“, und es sind keineswegs die Leute vom Fach, die die überzeugendsten Antworten geben. Kasper hatte nun die wahrhaft naive Idee, das Handbuch über die Kirche mit einem autobiographischen Bericht von fast 70 Seiten über seinen Weg in der Kirche einzuleiten. Jene Frage aber beantwortet er mit keinem Wort, er hat sie nicht einmal gestellt. Er spricht als Insider zu Insidern, den beati possidentes, den glücklichen Besitzern der Wahrheit, die den Fragenden, Zweifelnden und Nichtgläubigen nichts zu sagen haben.

♦ 2. Auf der ersten Seite der Einleitung rechtfertigt Kasper seinen autobiographischen Prolog in einer Ausführung, die ein Musterbeispiel seiner unscharfen Denkungsart ist.

(1) Er behauptet, daß die Ekklesiologie, die Lehre von der Kirche, nicht auf subjektiven, notwendig perspektivischen subjektiven Erfahrungen beruhe, sondern aus ‚objektiven‘ Quellen schöpfe, wobei ‚objektiv‘ in Anführungen steht.

(2) Die Ekklesiologie entspringe nicht persönlichen Erfahrungen, sondern der gemeinsamen Erfahrung der Kirche in Vergangenheit und Gegenwart.

(3) „Deshalb muß die Ekklesiologie von den objektiven Quellen ausgehen“ („objektiv“ ohne Anführungen): der hl. Schrift, Kirchenvätern, lehramtlichen Dokumenten und der ganzen Geschichte der Kirche.

(4) In der Ekklesiologie soll die Kirche nicht nur historisch und soziologisch beschrieben werden, sondern man muß „Rechenschaft geben vom eigenen Glauben in der Kirche“.

(5) „Die Ekklesiologie ist immer auch persönliches Zeugnis. Sie hat dann einen konkreten Zeitindex und ist unausweichlich mitgeprägt von persönlicher Kirchenerfahrung.“ (S.19)

Wenn man diese fünf Aussagen genauer untersucht, behauptet der Autor, die Kirchenlehre solle nicht auf subjektiven Erfahrungen beruhen, sondern auf objektiven Quellen. Zugleich aber soll sie persönliches Zeugnis sein und insofern also doch persönliche Erfahrungen wiedergeben oder von ihnen geprägt sein – ein offensichtlicher Widerspruch, ein Muster für den unscharfen Argumentationsstil des Autors, wenn man hier überhaupt von Argumentation und logischen Analysen und Folgerungen sprechen kann.

Fragwürdig ist, warum er „objektiv“ einmal in Anführungen setzt. Außerdem bleibt zu fragen, was der Zeitindex der Kirchenlehre bedeuten soll. Der Ausdruck ist unproblematisch, wenn er nur besagen soll, daß die Kirchenlehre die jeweilige geschichtliche Situation berücksichtigen solle, in der sie vorgetragen oder abgefaßt wird. Fragwürdig ist der Begriff, wenn er impliziert, daß das Wesen der Kirche sich in der Geschichte ändere. Doch muß man diese Auffassung in einer wohlwollenden Interpretation ausschließen, da Kasper an anderer Stelle erklärt: "Was heute wahr ist, ist auch morgen wahr" (S.375), d.h. daß er keinen Wahrheitsrelativismus oder eine Zeitabhängigkeit der Wahrheit vertritt.

Was aber seine Definition der Ekklesiologie angeht, die die persönliche Erfahrung enthalten solle, so hat der Autor selbst das Wichtigste vergessen, nämich von dem Motiv seines Kirchenglaubens Rechenschaft zu geben.

♦ 3. Ein weiteres Beispiel der laschen Denkungsart des Autors ist seine Stellungnahme zu Karl Rahner. Er berichtet, daß er von Rahners Aufsatz über die Dogmenentwicklung außerordentlich fasziniert gewesen sei, doch sei ihm Rahners transzendentaler Ansatz „aufgrund meines geschichtlich orientierten Denkens fremd“ geblieben (S.29). Kasper realisiert nicht, daß jener Aufsatz über die Dogmenentwicklung ein Musterbeispiel für historisches Denken und Argumentieren ist. Kasper hat nicht erkannt, daß Rahner einigen Denkaufwand getrieben hat, um seine transzendentale Erkenntnistheorie mit der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz zu vereinbaren. Kasper hat offensichtlich Hörer des Wortes oder den Grundkurs des Glaubens nicht gelesen, in seinem Buch werden diese Werke nicht genannt. – Nach den mehr oder weniger erbaulichen Ausführungen Kaspers sehnt man sich geradezu nach Rahners strengen Stil der genauen, bohrenden, umsichtigen, nichts auslassenden Argumentation.

♦ 4. Kasper legt ein enormes Material der Gelehrsamkeit über die Geschichte der Kirche und ihr Selbstverständnis vor. Er bringt lange Listen von gelehrten Namen, die als solche wenig besagen, weil diese Autoren und ihre Lehren nicht näher beschrieben werden. So macht sein Werk nicht selten den Eindruck der Oberflächlichkeit.

Er definiert die Ekklesiologie als Glaubenswissenschaft und erklärt, daß jeder Christ aufgefordert sei, Rechenschaft über seinen Glauben zu geben, um dann zu folgern: „Wenn sie ausdrücklich und methodisch geschieht, kann man von der Theologie als einer Wissenschaft sprechen“ (S.79). Das nennt er dann mit einem problematischen Begriff „Selbstreflexion der Kirche“, als sei die Kirche ein Subjekt, das über sich nachdenken könne. An anderer Stelle nennt er Christus das Subjekt der Kirche (S.251), woraus sich ergeben würde, daß die Ekklesiologie die Selbstreflexion Christi sei – was einfach absurd wäre.

Selbst wenn man von der problematischen und mißverständlichen Definition der theologischen Kirchenlehre als Selbstreflexion der Kirche absieht, muß man doch sagen, daß die Auffassung der Wissenschaft als eine explizite und methodische Reflexion eine allzu einfache und unzulängliche Definition der Wissenschaft ist. Kasper verschwendet keinen Gedanken an das außerordentlich umstrittene Problem, ob die Theologie eine Wissenschaft im modernen Sinne sein könne. Sowohl Heidegger als auch Rahner haben sich mit der Frage intensiv befaßt. Kaspers schlichte Auffassung von der Wissenschaft bezeichnet aber durchaus treffend seine Methode in diesem Buch; sie ist ein spezifischer Grund für die Oberflächlichkeit des Werkes und seinen oft allzu dürftigen Informationsgehalt.

So erfährt man über den Neuprotestantismus, daß Adolf von Harnack ein undogmatisches Christentum vertreten habe, ohne nähere Erläuterung, was denn das bedeuten soll. Wie soll es ein Christentum geben ohne theistischen Glauben und ohne Glauben an die biblische Gestalt, von dem sein Namen abgeleitet ist? Und sind diese Glaubensaussagen denn keine Dogmen, d.h. unaufgebbare Glaubenslehren?

Dann zitiert Kasper den Satz Karl Barths, daß Paulus nicht nur zu seinen Zeitgenossen geredet habe, sondern zu „allen Menschen aller Zeiten“ (S.84), und behauptet zu diesem Diktum, Barth habe „mit einem Paukenschlag die Theologie des 20. Jahrhunderts“ eingeleitet, ohne daß erkennbar würde, warum jenes harmlose, inhaltlich nicht gerade originelle Zitat ein Paukenschlag sein solle.

♦ 5. Kasper zitiert einen Konzilstext, der in zweideutiger Weise von den Gläubigen die Unterwerfung oder das Opfer des Verstandes (sacrificium intellectus) zu verlangen scheint. Statt aber auf dieses heikle Problem, das schließlich das Hauptargument der Religionskritik ist, einzugehen, behauptet Kasper einfach das Gegenteil der konziliären Aussage, daß nämlich der Glaube „als solcher vor dem Denken verantwortet werden“ wolle (S.78). Diese Art der Textinterpretation ist, gelinge gesagt, etwas irritierend, obwohl ich Kaspers Auffassung zustimmen kann, daß erwiesen werden müsse, daß es nicht unvernünftig ist, im christlichen Sinne zu glauben (cf. J.Q., Sacrificium intellectus, S.171ff.)

♦ 6. Die intellektuelle Schwäche oder Hilflosigkeit des Kirchenmannes zeigt sich ausgerecht dort am empfindlichsten, wo er auf die gegenwärtige Situation zu sprechen kommt, der sich die Kirche zwangsläufig konfrontiert sieht. Er übernimmt die These Max Webers von der Entzauberung der Welt in der Moderne kritiklos (S.63), ohne zu sehen, daß es eine rein soziologische Behauptung ist, die dem Zeitalter der Wissenschaft nicht gerecht wird. Dagegen haben Hoimar von Ditfurth und Karl Popper betont, daß die Natur mit dem Fortschritt der Wissenschaft immer staunenswerter und rätselhafter werde (zit. J.Q., Christliche Philosophie bei K. Rahner, S.177).

Kasper behauptet ohne jede Begründung, daß die Säkularisierungstheorie, wonach die Säkularisierung notwendig der Modernisierung folge, überholt sei. Die Behauptung ändert natürlich nichts daran, daß die westlichen Gesellschaften säkulare Gesellschaften sind, in denen die Religion keine prägende Rolle mehr spielt.

Dann bringt Kasper ein enigmatisches Wort von Theodor W. Adorno, um zu begründen, daß die christliche Botschaft in dieser Situation ein "Potential" habe. Der Satz lautet: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellen. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.“ (Minima moralia 1969, 333)

Kasper zitiert das rätselhafte Wort ohne jede Erklärung, so bleibt es eine erbauliche Geste. Um wenigstens anzudeuten, was Adorno gemeint hat, sei erläutert, daß er eine ideale Situation ausmalt, in der die Philosophie die Wahrheit der Dinge wirklich erkennen könnte. Es wäre der Standpunkt einer vom Messias erneuerten Welt, was natürlich ebenso wie der Begriff der Erlösung hier eine jüdische Vorstellung ist (cf. J.Q., Über das Ethos von Intellektuellen, S.60.). Er beschreibt also ein Wunschbild der Philosophie und eine gesellschaftliche Utopie, was alles mit der angegebenen Intention Kaspers doch nichts zu tun hat. Es ist, wie gesagt, eine erbauliche Geste, so wie Kirchenleute gerne jede Äußerung, die auch nur entfernt etwas mit Religion zu tun hat, als Bestätigung ihrer Lehre begierig aufgreifen und zitieren.

♦ 7. Auf weitere Thesen, Charakteristika, historische Rückblicke und Gegenwartsbeschreibungen seiner Kirchenlehre will ich nicht eingehen. Erwähnt sei nur noch eine Auffassung, die die Weltfremdheit des Autors verrät, d.h. seine Unkenntnis der modernen Mentalität. Wer aber das Christentum heute verkünden will, der sollte doch die Geisteshaltung der heute lebenden Adressaten kennen.

Wenig glaubhaft, sondern vielmehr kurios ist die Begründung, die Kasper gegen die Priesterweihe der Frau vorbringt. Die Begründung ist mystischer Art, wenn mythologisch nicht der bessere Ausdruck wäre. Er sagt, die Definition der Kirche als Braut Christi bedeute, daß der Priester als Vertreter Christi die Rolle des Bräutigams übernehme. Er hat selbst erkannt, daß diese Geschlechtersymbolik uns heute fremd geworden sei (S.340) – was aber doch recht untertrieben ist. In der derben Form, in der Kasper die Braut-Metaphorik hier vorträgt, ist sie heute psychologisch schlicht unerträglich.

Übrigens hält Bernhard Häring die Priesterweihe der Frau nicht nur für möglich, sondern für eine zukünftige Praxis, trotz der römischen Entscheidung, die die Ordination der Frau verbietet (Meine Hoffnung für die Kirche 1997, 130). Rahner ist, entgegen der dogmatischen Auffassung Roms, der Meinung, daß der Ausschluß der Frau vom Priestertum "kein Prinzip göttlichen Rechts ist und von der Kirche geändert werden könnte" (Karl Rahner im Gespräch 1983, Bd. 2,211).

♦ 8. Was nun die Zukunftsaussichten der Kirche angeht, so hat Kasper einiges durchaus richtig erkannt; was er jedoch als Lösung der Probleme vorschlägt, sind kaum mehr als Gesten der Rat- und Hilflosigkeit. Er hat richtig gesehen, daß die entscheidende religiöse Krise der Gegenwart eine Krise des theistischen Glaubens ist. Was er als Gegenmaßnahme vorschlägt, eine erneuerte theistische Botschaft, eine erneuerte christliche Botschaft, eine geistlich erneuerte Kirche, ist zwar gut und schön, aber in der blassen Formulierung doch nicht mehr als frommes Wunschdenken (S.472).

Kasper lobt die liturgische Erneuerung im Sinne des Konzils und räumt aber auch ein, daß es „bei der Umsetzung der Reformen zu einer gewissen Verarmung der symbolhaften Vollzüge und oft auch zu Banalisierungen“ gekommen sei (S.481). Doch hat er das verheerende Ausmaß dieser Entwicklung und die wahre Bedeutung der mißglückten oder fehlgelaufenen liturgischen Reform nicht wirklich erkannt.

Tatsächlich zeigt sich in diesem Tatbestand der banalisierten kirchlichen Feiern, daß der Sinn für das Sakrale weithin, selbst in den katholischen Gemeinden, verloren gegangen ist. Ohne kultische Ausübung des Glaubens aber kann keine Religion überleben. Dies war auch das Fazit der monumentalen philosophischen Geschichte von Glauben und Wissen, die Jürgen Habermas vorgelegt hat (cf. Kritische Anmerkungen). Es gibt wohl wenige Beispiele für die desaströsen Nebenfolgen einer gutgemeinten Reform, die mit den Folgen der volkssprachlichen Liturgie zu vergleichen wären. Der zunehmende Mitgliederschwund der Kirchen dürfte diesen Zusammenhang bestätigen. Diese Institutionen des Glaubens haben ihre geistige und ihre kultisch-feierliche, künstlerische Anziehungskraft aus eigener Schuld längst und gründlich verloren.

Es versteht sich, daß die Idee einer Neuevangelisierung angesichts dieses trostlosen Prozesses einer Entsakralisierung, einer Transformation der religiösen Feierlichkeit ins Alberne, nicht überzeugen kann. Was da bei Kasper als Programm aufgeboten wird, sind nichts anderes als leere Worte.

♦ 9. Wo bleibt denn nun das Positive, kann man mit Erich Kästner fragen. Ja, wo bleibt es denn? Es ist anzuerkennen, daß Kasper, wo immer es möglich ist, passende Belege und Gedanken von Thomas von Aquin gebracht hat. Freilich war es ihm nicht gegeben, die strenge, umsichtige und gründliche Denkungsart des Thomas zu übernehmen und selbst zu praktizieren. Angenehm fällt auch auf, daß er die griechischen Wörter auch in griechischen Buchstaben schreibt, wie es sich gehört, was aber leider immer seltener geworden ist. Wenigstens in diesem Punkt herrscht also Klarheit.

J.Q. — 11. Juni 2023

© J.Quack


Zum Anfang