Josef Quack

Erinnerung an Karl Kraus und Theodor Haecker




Wir sind Insassen einer Zeit, welche die Fähigkeit verloren hat, Nachwelt zu sein.

Karl Kraus

Zufällig stieß ich auf die Autobiographie Axel von Ambessers (1910-1988), Schauspieler, Regisseur, Komödiendichter, Nimm einen Namen mit A (1988). Es ist ein amüsanter Rückblick auf eine längst vergangene Kulturepoche, am Ende aber voll Zorn auf die subventionierten Bühnen, die mit ihrer vulgär-exhibitionistischen, die Klassiker mißhandelnden und verhöhnenden Aufführungspraxis das Theater nachhaltig ruiniert haben. Ich bin froh, das Modewort „nachhaltig“ mal sinnvoll verwenden zu können.

Das Theater aber hat seit einigen Jahrzehnten jede gesellschaftliche oder kulturelle Bedeutung verloren. Es spielt in der öffentlichen Diskussion der Zeit keine Rolle mehr. Als Kulturgut ist es auf die Ebene der Liebhaberei abgesunken, ungefähr so interessant und wertvoll wie Briefmarken Sammeln.

Die Unterhaltungsfunktion wird schon längst fast ausschließlich vom Fernsehen wahrgenommen, nachdem auch der deutsche Film nur noch als Zulieferer für das Fernsehen tätig ist oder überhaupt nur noch als solcher existiert. Hinzukommt seit zwei Jahrzehnten das riesige Angebot im Internet, alles bequem zuhause verfügbar ohne den Zwang, die Spielstätten aufsuchen zu müssen.

Was Ambesser über die Theatergeschichte seiner Zeit, die Jahre des Dritten Reiches, die Verhältnisse während des Krieges, die kabarettistischen Anfänge nach dem Krieg, seine komödiantischen Erfolge während der Nachkriegszeit erzählt, ist durchaus informativ und geistreich vorgetragen. Doch ist es nicht eigentlich dieses Thema, das mich überrascht und interessiert hat, sondern seine Bemerkungen über Karl Kraus und Theodor Haecker. Daß er Kraus erwähnt, lag durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen, da Kraus zum Theater seiner Zeit ja einiges zu sagen hatte, abgesehen von seinem Riesenopus über die Letzten Tage der Menschheit und das Bonmot über das gefeierte Theatergenie seiner Zeit, das er übrigens einen „Bühnenlaie“ genannt hat: „Max Reinhard probt, bis dem Morgen graut“.

Daß Ambesser aber auch Theodor Haecker (1879-1945), den Kierkegaard-Übersetzer und christlichen Kulturphilosophen, durchaus verständnisvoll erwähnt, konnte man bei einem Schauspieler und Lustspielautor aber wohl kaum erwarten. Das aber zeigt zweierlei: erstens, daß Ambesser über eine gewisse Bildung verfügte und geistige Interessen hatte, und zweitens, daß Haecker zu seinen Lebzeiten einem größerem Kreis bekannt war als dem engen Zirkel der Fachphilosophen oder Theologen.

Karl Kraus

Ambesser, mit bürgerlichem Namen: Axel Eugen von Oesterreich, stammte aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie. Seine Mutter war offenbar eine hochgebildete Frau, die das kulturelle Leben der Zeit, die berühmten zwanziger Jahre, aufmerksam verfolgte. Sie bezog die linksintellektuelle Wochenschrift Die Weltbühne, dessen wichtigster Autor Kurt Tucholsky war, und Die Fackel, deren einziger Autor Karl Kraus war. Ambesser erklärt, daß Kraus ihn stark beeinflußt habe und seine „naive Bewunderung für sozialistische Zukunftsvisionen etwas gedämpft" habe (S.61).

Als Schauspieler und Komödiendichter wurde er dann aber durch zwei Urteile des Theaterfachmanns Kraus entscheidend geprägt. Von ihm lernte er überhaupt erst die Operette schätzen, was für gewöhnliche Darsteller von Tragödien und Dramen, selbst für Darsteller der Komödie, keineswegs selbstverständlich war. Kraus aber hielt die Operette für „die höchste Kunstform des Theaters“ (S.80).

Die zweite Prägung durch Kraus betraf Johann Nestroy, den Kraus außerordentlich schätzte. Auf sein Urteil verließ Ambesser sich, als er 1951 Nestroys Stück Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl inszenierte. Kraus hielt es für Nestroys bestes Stück (S.112). Soweit liegt die Beziehung zu Kraus durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen, man kann auch sagen, sie war in der Zwischenkriegszeit für einen Theatermann fast unausweichlich, da Kraus in dieser Sphäre eine wichtige Rolle spielte. Ein Verteidiger Brechts war er ein scharfer Gegner des einflußreichen Theaterkritikers Alfred Kerr, auch war Kraus’ Urteil über Max Reinhardt jedem Insider bekannt.

Merkwürdigerweise erwähnt Ambesser aber Kraus bei zwei Gelegenheiten, wo man es nicht erwartet hätte. Kurz vor dem Krieg wurde er zu einem Künstlerempfang in die neue Reichskanzlei eingeladen. Er hörte den Monolog Hitlers, in dem er „Pläne für die Gleichschaltung der deutschen Sprache“ entwarf. Diese Rede kommentiert Ambesser mit den Worten: „Daß er gerade in meiner Gegenwart, der ich so leidenschaftlich Karl Kraus gelesen hatte, diese Zukunftsvision von ‚Ein Volk, ein Reich, eine Sprache‘ entwarf, erschien mir als eine besondere Gunst des Schicksals.“ (S.151)

Ich muß gestehen, daß ich nicht verstanden habe, was Ambesser mit diesen Worten sagen wollte. Meint er, daß Hitler in diesem Punkt dieselbe Sprachauffassung vertrat wie Kraus? Oder wollte er dessen Meinung kritisieren, indem er sie mit der Auffassung von Kraus verglich? Diese Worte lassen mich ratlos wie Geisterrede, um mit Walter Benjamin zu sprechen.

Überrascht hat mich dann aber eine weitere Erwähnung des prägnanten Namens. Als Ambesser nach dem Anschluß Österreichs von einem Wiener Journalisten interviewt wurde, nannte er den Namen von Karl Kraus. Damit gab er sich „natürlich für jeden sofort als Gegner des Antisemitenklüngels zu erkennen“. Doch hat ihm diese Offenheit nicht geschadet, wie er befürchtet hatte. Der Redakteur führte ihn vielmehr in einen Freundeskreis von Schriftstellern, Journalisten, Theaterleuten ein, die allesamt Gegner der Nazis waren und in diesem Kreis sich frei austauschen wollten (S.190).

„Karl Kraus“ als ein Codewort für einen Kreis von Nazi-Gegnern, eine bemerkenswerte Fußnote seiner Rezeption, ein Umstand, der in der Sekundärliteratur wenig oder gar nicht beachtet wurde.

Zu der Sache des Theaters wäre aber noch zweierlei zu sagen. Karl Kraus hat Johann Nestroy nicht nur hoch geschätzt, er hat in seinem Essay „Nestroy und die Nachwelt“, ein Beitrag zu seinem 50. Todestag (1912), den Komödiendichter erst wiederentdeckt und sozusagen für die Bühne gerettet. Er kritisiert die Gegenwart wegen ihrer Kunstfeindschaft, die einer Rezeption Nestroys entgegensteht, und führt eine Rettung Nestroys durch, indem er vor allem Nestroy als Dichter und Sprachkünstler vorstellt und würdigt: „Nestroy ist der erste deutsche Satiriker, in dem sich die Sprache Gedanken macht über Dinge. Er erlöst die Sprache vom Starrkrampf, und sie wirft ihm für jede Redensart einen Gedanken ab.“ (K. Kraus, Untergang der Welt durch schwarze Magie. 1974, 233) „Rettung“ ist hier im Sinne Lessings zu verstehen als Rehabilitation oder Wiederherstellung des literarischen Ansehens. Kraus leistet dies in einem Essay, der eine der kunstvollsten Schriften seines Werkes ist (cf. J.Q., Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus. S.56ff.).

Was die Bewertung der Operette als höchste Form der Theaterkunst angeht, so wäre zu präzisieren, daß dieses Urteil sich offensichtlich von der Einsicht in das Werk Jacques Offenbachs herleitet. Von ihm sagt Kraus, er erachte ihn „für den überhaupt größten satirischen Schöpfer aller Zeiten und Kulturen“, er hielt ihn für „ein Genie der Heiterkeit“ (Die Fackel 827-832, 77). Ein kaum mehr zu übertreffendes Lob. Wenn es in der Zwischenkriegszeit zu einer Renaissance Offenbachs gekommen ist, dann durch die Vorträge und Inszenierungen von Karl Kraus.

Daß Kraus aber Operetten von Offenbach öffentlich mit Klavierbegleitung vortrug, geht auf eine Anregung Sigismund von Radeckis zurück. Er bestürmte Kraus im April 1926, Offenbachs Blaubart einzustudieren und vorzutragen, was Kraus nach kurzem Zögern dann auch tat: „So aber wurden in zehn Jahren 16 kostbare Ofenbachwerke von Kraus aus dem Vergessen in die Unsterblichkeit gehoben“ (Radecki, Das schwarze sind die Buchstaben. 1957, 153)

Theodor Haecker

1935 kam Ambesser als junger Schauspieler an die Münchener Kammerspiele. In diesem Zusammenhang diskutiert er die Frage, warum er, der auf keinen Fall ein Nazi werden wollte, nicht emigriert sei. Für diese Tatsache, die eigentlich keine Entscheidung gewesen sei, sprachen zwei Gründe: daß er niemals Englisch so perfekt werde sprechen können wie Deutsch und daß er seine kleine Karriere als Schauspieler nicht aufgeben wollte. Dann aber schreibt er über den Wunsch, im Alltag eine Sphäre zu haben, die von der öffentlichen Propaganda-Sphäre möglichst unberührt war. Ein solcher Ort war ein Kaffeehaus, wo sich ein Kreis überzeugter Nazi-Gegner traf, eine Gruppe „überzeugter, ja kämpferischer Katholiken, und ihr Mittelpunkt war Theodor Haecker". Ambesser konnte bei den hochgebildeten Gesprächen nicht mithalten, war aber wegen seiner Schnurren und Späße doch auch gerne gesehen und geschätzt.

Obwohl Protestant war er religiös ursprünglich nicht besonders interessiert. Er wurde in dieser Hinsicht zum ersten Mal stark beeindruckt durch das Buch von Theodor Haecker Was ist der Mensch?. „Mein bis dato sehr geringes Weltverständnis wurde durch seine These von der Hierarchie der Schöpfung wesentlich erweitert, und auch der für mich ganz neue Begriff der Gnade hat mich stark berührt.“ Dann aber wundert er sich darüber, daß der „ungewöhnlich kluge, ja weise Mann“ sich über harmlose Scherze freuen konnte – was mit Ambessers Vorurteil von einem katholischen Philosophen nicht zu vereinbaren war (S.104f.). Schließlich erwähnt er Haeckers Tag- und Nachtbücher, die nach dem Krieg erschienen sind und gelegentlich die Gesellschaft des Cafés erwähnen. Auf die zeitkritischen, religiös orientierten Gedanken des Tagebuchs geht er allerdings nicht ein.

Haeckers Freundeskreis in München und ihr wechselnder Treffpunkt in Cafés war unter Interessierten und Gleichgesinnten damals wohl bekannt. Dazu gehörte auch Friedrich Percyval Reck-Malleczewen (1884-1945), ein erzkonservativer, monarchistisch gesinnter Schriftsteller, ein glühender, wortgewaltiger Hasser des Nationalsozialismus und ihrer Führergestalten, die er teils persönlich kannte. Nach einer Denunziation kam er anfangs 1945 ins KZ Dachau, wo er bald starb. Er wurde durch sein Tagebuch über die Jahre 1936-1945 bekannt, vor allem aber deshalb, weil Hannah Arendt ihn in ihrem Buch über Eichmann als einen der wenigen überzeugten Widerstandskämpfer erwähnt und würdigt.

Reck-Malleczewen berichtet am 9. September 1937 in seinem eigenen Tagebuch, daß Haecker „über diese Zeit ein Journal“ führe, und schildert einen Besuch der Gestapo bei Haecker, die nach dem Manuskript suchten. Doch wurde der Beamte durch eine Zwischenfrage abgelenkt, so daß er die Schrift wieder weglegte. Dazu muß man sagen, daß die postum veröffentlichten Tag- und Nachtbücher erst 1939 beginnen, Haecker also die früheren Aufzeichnungen nicht veröffentlichen wollte.

Zu jener Tafelrunde gehörte zeitweise auch Sigismund von Radecki. Auch er erzählt von einem Besuch der Gestapo bei Haecker wegen seiner Aufzeichnungen. Er berichtet aber auch von seinen Tischgesprächen: „Haecker erweckte immer Ehrfurcht, auch wenn man plaudernd neben ihm im Café saß. Er konnte lachen, diskutieren, entzückende Anekdoten erzählen – immer blieb doch das Gefühl, daß er allein war: mit sich und seinen Gedanken. Welch ein Durst nach Wahrheit beseelte ihn. Ich erinnere mich, wie ich ihn einmal nach dem Zusammenhang zwischen Dummheit und Bosheit fragte. Jeder Irrtum, sagte er, jedem Abgleiten in die Unwahrheit geht, als Bewegung, eine wenn auch nur winzige Sünde voraus.“ (Das Schwarze sind die Buchstaben 1957, 100f.)

Zu Haeckers Werk will ich wenigstens in aller Kürze sagen, daß er drei wichtige Bücher geschrieben hat. Vergil, Vater des Abendlandes (1931) erschien zu Vergils zweitausendstem Geburtstag. Darin beschreibt Haecker das Wesen der europäischen Kultur, besonders eindringlich die Auffassung von Arbeit und Herrschaft. Zwar behauptet er, daß die europäische Kultur den Primat über die ganze Welt erlangt habe; die wissenschaftlich-technische Zivilisation ist schließlich europäischen Ursprungs. Doch ist die Schrift keineswegs eurozentrisch angelegt, wie man meinen könnte, denn Haecker rechnet ausdrücklich mit der Möglichkeit, daß ein Chinese ein Buch mit dem Titel „Laotse, Vater des Morgenlands“ schreiben könnte.

Haeckers bedeutendste philosophische Arbeit ist Was ist der Mensch? (1933) Er zeichnet und erklärt darin das christliche Menschenbild, den Menschen als animal rationale (Geistwesen) und Idee Gottes. Er verteidigt diese These gegen das Menschenbild seiner Zeit: die materialistische Ansicht, daß der Mensch eine Maschine sei; gegen den Irrationalismus der Lebensphilosophie, die den Menschen als eine Art Pflanzenwesen auffaßt; gegen die Meinung des Nationalsozialismus, daß der Mensch ein Raubtier sei. Vor allem aber widerlegt er die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus mit dem Argument, daß sie mit dem christlichen Glauben an die Menschwerdung Gottes schlechthin unvereinbar sei. Zudem wendet er sich gegen den Begriff des Politischen als Freund-Feind-Gegensatz, die berühmte Definition Carl Schmitts. Dagegen besteht er auf der klassischen Auffassung, daß alle humane Politik auf der Idee der Gerechtigkeit beruhe (cf. J.Q., Christliche Literatur im 20. Jahrhundert. S.117ff.)

Die Tag- und Nachtbücher wurden wegen der Fülle und Schärfe der Gedanken angesichts des atheistischen Gewaltregimes der Nazis von Radecki mit den Pensées Pascals verglichen. Haecker polemisiert darin gegen die deutsche Herrgott-Religion, er ist enttäuscht von der diplomatischen Haltung der Kirche gegenüber dem NS-Staat, er sagt die politische Entmachtung der Kirche voraus, er stellt unmißverständlich klar, daß man gegenüber diesem Staat nicht zur Treue verpflichtet sei. Sein Denken bestand im Grunde aber hauptsächlich in dem Versuch, die geistigen Ursachen zu erforschen, die zu der modernen Mentalität geführt haben. Er war übrigens der geistige Mentor der studentischen Widerstandsgruppe um die Geschwister Scholl, die dann verraten und hingerichtet wurden.

Was die philosophische Auseinandersetzung angeht, die an die Fundamente unseres Denkens rührt, so möchte ich hier nur erwähnen, daß Martin Heidegger die Philosophie Haeckers wegen ihrer christlichen Voraussetzung scharf kritisiert hat; andererseits hat Haecker die Endlichkeits-Philosophie Heideggers geradezu verächtlich abgetan. Ironischerweise hat dann Karl Löwith, ein Schüler Heideggers, nachzuweisen versucht, daß dessen Seinsfrage, Ursprung und Grundlage seiner ganzen Philosophie, selbst auf jüdisch-christlichen Voraussetzungen beruhe, nämlich auf der Idee der Schöpfung aus dem Nichts (cf. J.Q., Christliche Literatur im 20. Jahrhundert. S.118ff.)

Wir seien „Insassen einer Zeit, welche die Fähigkeit verloren hat, Nachwelt zu sein“, schreibt Karl Kraus. Er meint damit, daß wir unfähig und unwillens sind, die große Dichtung der Vergangenheit aufzunehmen und zu würdigen. Das gleiche gilt natürlich auch für die relevante Philosophie der zurückliegenden Zeit und es gilt für Kraus selber, dessen Name immer seltener im öffentlichen Gespräch auftaucht, und erst recht für Theodor Haecker, dessen Name nur noch wenigen Kennern vertraut ist.

© J.Quack — 24. Okt. 2023


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