Josef Quack

Übertreibungen

Günter Grass, Im Krebsgang. Eine Novelle. (2002)
Günter Grass, Mein Jahrhundert. (1999)



Als kaufte Einer mehrere Exemplare der heutigen Morgenzeitung, um sich zu vergewissern, daß sie die Wahrheit schreiben.

L.Wittgenstein

In der "Krebsgang"-Erzählung, die G.Grass "Novelle" nennt, erfahren wir, wie einige Tausend Flüchtlinge in der Ostsee einen grausamen Tod fanden, als ihr Schiff von einem russischen U-Boot torpediert wurde. Wir hören von schauerlichen Szenen der unsachgemäßen Rettungsversuche, von Beispielen rücksichtslos tödlichen Egoismuses. Berührt werden die Schändlichkeiten der Vertreibung und die Rede ist von einem politisch motivierten Attentat auf den Namensgeber des Schiffes, von allerlei Terror des Nazismus.
Und was schreibt ein Kritiker dazu? "So macht Geschichtsunterricht Spaß"!
Nun ist niemand dagegen gefeit, gelegentlich Unsinn von sich zu geben, auch Buchbesprecher nicht. Der Spaß hört aber dort auf, wo ein Lektor den Unsinn aufgreift und als Reklame auf den Umschlag des derart verkannten Textes setzt. Ihm ist sowenig wie dem Rezensenten aufgefallen, daß hier ein erschreckendes Mißverhältnis zwischen Wort und Sache vorliegt. Und die Kunst der Kritik besteht im Grunde darin, das richtige Wort zu finden. Es ließe sich mühelos nachweisen, daß die viele kritische Fehlurteile auf einen Mangel an sprachlichem Sinn zurückgehen, oft auf die simple Unkenntnis, wie ein Ausdruck verwendet wird. Durch ein einziges eklatantes Fehlurteil ist der Ruf eines Kritikers für immer ruiniert. "Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt — es ist niemals gutzumachen."
Ein anderer Beurteiler kehrt sein dürftiges literaturtheoretisches Wissen hervor und verwechselt Themenwechsel mit Perspektivenwechsel. Was er schreibt, hat aber den Schein der Informiertheit — und so hat es auch der verantwortliche Verlagsmensch verstanden.
Schließlich, ist das Werk wirklich so hervorragend, wie es beim Erscheinen ausgegeben wurde? Ein als links geltender Autor hat ein Thema der deutschen Geschichte, einen Aspekt der Vertreibung behandelt, der vordem von seinesgleichen, übrigens nicht von dem unbestechlichen Heinrich Böll oder dem gleichfalls selbstdenkenden Arno Schmidt, vernachlässigt worden war. Darin kann man eine gewisse Bedeutung sehen. Aber als literarische Leistung, als Novelle betrachtet — ist es wirklich meisterhaft? Wohl kaum. Die familiäre Folge, Mutter, Sohn und Enkel in verschiedenen zusammengehörigen politisch-ideologischen Rollen, ist doch ein wenig zu konstruiert, um glaubwürdig zu sein, und die modische Internet-Beschreibung wirkt doch ein bißchen ungelenk und unerfahren.
Es ist gewiß eine gute Sache, daß der alte Herr die Danziger Mundart vor dem Vergessen bewahren wollte; deshalb läßt er die dominierende Frauenfigur in diesem Dialekt reden. Doch scheint ihm der tiefgehende Funktionswandel verborgen geblieben zu sein, dem die Mundart in einem Text der Schriftsprache unterliegt.
Vor allem aber wird Nebensächliches in der Geschichte der Recherche überbetont und historisch Relevantes zu knapp behandelt. Man merkt die Absicht, daß Grass die mit der Katastrophe gegebene Spannung sich nicht ungebremst entfalten lassen, sondern die Geschichte um der historisch-politischen Wahrheit willen entdramatisieren wollte. Er macht von der Novellenform einen ironischen Gebrauch.
Gemessen an den vertanen Chancen der Erzählung, gemessen auch an Grassens eigenen, in seinen Anfängen gesetzten Standards ist es ein leichtgewichtiges Nebenwerk, dem der schlichte Umstand der Kürze des Textes zum Erfolg bei Lesern verholfen hat, die größere Texte nicht mehr bewältigen können.
Wenn man aber die Leistung im Kontext der derzeitigen Literaturproduktion beurteilt, muß man es allemal ein wichtiges Buch nennen.
Das gleiche ließe sich über das Resümee "Mein Jahrhundert" sagen, das für sich betrachtet enttäuschend ist.
Wie konnte er nur auf die Idee kommen, das Säkulum annalistisch, Jahr um Jahr abzählend, pedantisch durchzuhecheln? Selbst der Plötz ist hier schlauer, da er doch Zusammenhänge aufzeigt, Strukturen und Wirkungsketten beschreibt. Leider muß man feststellen, daß Grass, so emphatisch er sonst über die historische Zeit an sich schreibt, hier das Reflexionsniveau des historischen Sinns kaum erreicht.
Seite um Seite fragt man sich: hat er nicht mehr zu sagen? Über die enormsten Ereignisse, dann über die kritisierten E.Jünger und M.Heidegger, oder über den bewunderten Celan, den er persönlich gekannt hatte, schließlich über sich selbst und sein Werk? Halbherzig ironisch rückt er von dem bis heute wiedergekäuten, völlig gehaltlosen Klischee ab, daß erst mit "Billard um halb zehn", den "Mutmaßungen über Jakob" und der "Blechtrommel" die Nachkriegsliteratur angefangen habe.
Ist es zuviel verlangt, wenn man von einem Romancier etwas Neues erwartet, daß er zum Beipiel den bekannten Ereignissen einen bisher übersehenen Aspekt abgewinnt und nicht nur zu Déja-vu-Erlebnissen im Geist der politischen Korrektheit verhilft?
In der Wahl der Form hatte er keine glückliche Hand. Neben eigentlichen Kalendergeschichten und Anekdoten hat er es mit der elenden Kurzgeschichte, jenem, wegen des geringen Umfangs bevorzugten, unseligen Favorit der Schullektüre, der offenbaren Ursache eingepaukter Literturfeindschaft, dem wirklichen Grund für die schwächste Produktion der Nachkriegsliteratur. Und natürlich ist die gewählte Form gerade nicht episch, wie uns wiederum die Verlagsreklame vormachen will. Episch und ein großer Wurf war dagegen das "Weite Feld", der authentische Roman über die Folgen der Einheit. Er wurde, wie man weiß, von den Wortführern der Kritik unisono schmählich verkannt und verteufelt, ein dies ater des Rezensionsbetriebs, der einen Roman verriß, weil man den politischen Publizisten treffen wollte.
An Grass läßt sich studieren, daß ein Buch selten für sich beachtet wird, sondern oft nur in Verbindung mit den Animositäten, die der Autor erregt. Man sollte aber das eine von dem anderen trennen können, da er als Romancier oft klüger und überzeugender ist denn als politisch-journalistischer Akteur. Die größte Achtung verdient sein beherztes Engagement für den bedrohten Salman Rusdie, und das geringste Verständnis kann man dafür aufbringen, daß ein Mann mit seinem politischen Ruf sich an der Geburtstagstafel eines der peinlichsten Regiereres unserer an peinlichem Personal überreichen Geschichte blicken läßt: "Mir tut es in der Seele weh, daß ich dich in der Gesellschaft seh". Rolf Hochhuth hat in der gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Krise einen besseren politischen und moralischen Instinkt bewiesen.

J.Q.   —   9.Mai 2004

©J.Quack



Josef Quack

Rez.: Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. (2002.)

Ganz und gar unverständlich ist das Aufheben, das um die im Nachlaß von Sebastian Haffner entdeckte "Geschichte eines Deutschen" gemacht wurde. Der ZEIT-Redakteur Volker Ullrich behauptet, das Bändchen sei vielleicht Haffners bestes Buch. Er gibt also der epionalen Anfängerprosa, die Haffner aus guten Gründen nie veröffentlichte, den Vorzug vor den magistralen Essays des reifen Autors. Und Franziska Augstein kommt zu dem Schluß, Haffner mache begreiflich, wie Hitler möglich wurde. Was keinem Historiker bisher gelungen war, soll also Haffner mit diesem Fragment gebliebenen bemühten Versuch bereits geschafft haben. — Über soviel Expertenweisheit kann der Laie nur den Kopf schütteln.
Denn Haffner bringt hier keine neuen historischen Fakten vor und seine Deutungen und Reflexionen sind zwar bisweilen geistreich, aber selten stimmig und überzeugend. So stellt er die sozialpsychologische These auf, die Massenseele und die kindliche Seele seien in ihren Reaktionen sehr ähnlich — was eine Spekulation ist, die auf der Ambiguität des Begriffs des Kindlichen oder der Simplizität beruht. So auch die These, die immerhin einen rationalen Kern hat: "Was 'jedes Kind weiß', ist meist die letzte, unableugbarste Quintessenz eines politischen Vorgangs".
Haffner denkt, darin übrigens Thomas Mann und dem kritisierten Objekt verwandt, in völkerpsychologischen oder kollektivistischen Kategorien und spricht magna voce von der "deutschen Seelenverfassung" oder dem "Nationalcharakter" und, M.Thatcher vorwegnehmend, von der Unfähigkeit der Deutschen zur Demokratie, um gelegentlich zu Begriffen der Vielzahl anonymer Individuen zu wechseln, damit einen geschichtstheoretischen Gedanken Tolstois von ferne streifend.
Übrigens hat er wohl auch die windige Idee der Repräsentanz, die den Bericht der Unbedeutendheiten organisieren und beleben soll, von Th. Mann entlehnt. Sie hat sich recht eigentlich erst in unserer trübsten Jetztzeit bewährt, ist Mann doch zum Goethe des Talkshow-Publikums regrediert und als solcher zu einem Nachruhm gekommen, den der ruhmbedürftige Schriftsteller in seinen schlimmsten Träumen nicht erahnen konnte.
Haffners Behauptung, das deutsche Militär sei zu jedem Widerstand gegen die Staatsführung unfähig, wurde durch den 20. Juli 1944 widerlegt, und die Meinung, nur Rathenau habe eine ähnliche Massenwirkung ausgeübt wie Hitler, ist nur ein apartes Aperçu. Die kuriose, ästhetizistisch klingende und einer unpolitischen Betrachtung sich nähernde Behauptung, daß Grausamkeit Größe haben könne, verträgt sich schlecht mit der vorgegebenen humanen Gebildetheit des Regimegegners, und wenn er behauptet, im Falle des Reichstagsbrands sei die Beschuldigung der Kommunisten so gut wie allgemein geglaubt worden, hat er die historische Wahrheit nicht auf seiner Seite. Seine Destruktion der Kameradschaftlichkeit, des sadistischen, antipersonalen Gruppengeistes ist zwar richtig und überzeugend, doch wurde das Phänomen in der Nachkriegsliteratur literarisch gekonnter und intellektuell anspruchsvoller dargestellt.
Haffner hatte also den richtigen Instinkt, als er das unfertige Manuskript nicht der Öffentlichkeit vorlegte. Er hat später Klügeres und Einsichtigeres geschrieben. Die Publikation dieser Erinnerungen hat aber einen Prozeß der Überprüfung seines Gesamtwerks in Gang gesetzt, wurde er doch vielfach unreflektiert als eine Art historisch-politisches Orakel verehrt. Damit ist es nun vorbei.

J.Q.   —   9.Mai 2004

©J.Quack


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