Josef Quack

Über Ruth Klügers Belehrungen

Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend (1992). München 1995.



Bücher, die beim Erscheinen viel gelobt und viel gekauft wurden, sollte man, wenn überhaupt, erst lesen, wenn der ärgste Rummel vorbei ist. Die wenigsten überleben eine Saison, und hinterher kann kein Mensch mehr sagen, warum ein Buch anno XY ein Bestseller war. Etwas anderes wäre bei einem Besprechungswesen, das nichts als ein Epiphänomen des Buchhandels ist, auch kaum zu erwarten.
Auch zehn Jahre nach dem Erscheinen sind die Erinnerungen Ruth Klügers immer noch lesenswert. Was sie über ihre Haft in Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Christianstadt, über Flucht und Rettung bei Kriegsende berichtet, wird so schnell nicht veralten.
Darauf bezieht sich wohl M.Walsers Spruch, mit dem die Taschenbuchausgabe angepriesen wurde. Walser behauptet darin allen Ernstes, daß "jeder Leser auf dieses Buch mit seiner eigenen Geschichte werde antworten müssen". Bei allem Respekt scheint mir diese Formel der Erbaulichkeit als Lektüreanweisung doch ungeeignet. Vielmehr sollten Leser auf dieses Buch mit dem Gebrauch ihres Verstandes und der Urteilskraft reagieren, es enthält nämlich auch Partien, die man nur kritisch aufnehmen kann.
Es ist durchaus richtig, daß man Darstellungen des realen Grauens nicht gerecht wird, wenn man sie nach rein ästhetischen Kriterien beurteilt, und von solcher Art ist größtenteils Klügers Erlebnisbericht. Anders verhält es sich mit den Reflexionen und Belehrungen, die nicht nur subjektive Ansichten sein sollen, sondern meist ausdrücklich beanspruchen, richtig und allgemeinverbindlich zu sein.
Zunächst ist ein unglücklicher Hang zum Psychologisieren zu beobachten. Gelegentlich nimmt sie die Einstellung des allwissenden Erzählers ein, ein Ding, das durch unzulängliche Erzähltheorien spukt, in der wirklichen Literatur aber niemals beobachtet wurde. Einmal erfährt man, wie in der Stadtbahn ein Mann dem Kind mit dem Judenstern heimlich eine Orange zusteckt. Der Kommentar der Autorin: "Es war eine sentimentale Geste, in der der Spender sich in seinen guten Absichten bespiegelte". Woher weiß sie das? Wie kann sie wissen, was das wirkliche Motiv des Mannes war, und wie kann sie behaupten, das Verhältnis des Mannes zu seinen Intentionen zu kennen, und warum soll Schenken in dieser Situation sentimental sein? Es zeigt sich hier eine Rechthaberei, die über die berufsübliche Verbildung eines Lehrers doch ein wenig hinausgeht — die Autorin ist Germanistikprofessorin und nimmt für sich in Anspruch, die Präzision der Fragestellungen in literaturwissenschaftlichen Seminaren zu befolgen!
So möchte sie auch nicht, daß man Bücher dieser Art >erschütternd< nennt, obwohl es doch der einfachste und treffendste Ausdruck für diese Jugenderinnerungen ist. Es sieht so als, als rührten manche ihrer Sprachskrupel daher, daß sie jahrzehntelang in einem fremden Sprachraum gelebt hat.
Einmal spottet sie mit Recht über die "Wienerwald- und -wiesen-Psychoanalyse". Sie selbst macht aber zahlreiche Anleihen bei der verdächtigen Disziplin und hantiert ohne Bedenken mit den einschlägigen sinnleeren oder sinnverfälschenden Klischees wie >Mutter-Tochter-Neurose<, >Trauerarbeit leisten<, >Leser-Identifikation<, >sublimieren<, >Projektion als Trost<, >Verdrängung< u.ä.m.
Auch hat sie keine glückliche Hand, wenn sie die Prosa ihrer Reflexionen rhetorisch zu veredeln sucht. Man ist einigermaßen perplex, wenn man sieht, wie eine erklärte Feministin das Thema 'Erinnerung als Beschwörung' ausgerechnet mit einer detaillierten Küchen-Metaphorik entfalten zu müssen glaubt. Von der unglücklichen Metaphernwahl abgesehen, scheint ihr entgangen zu sein, daß die ausgeführte Metapher das heikelste aller verfügbaren Ausdrucksmittel und gewöhnlich ein Indiz für unangebraches Poetisieren ist.
Indiskutabel sind sodann die meisten feministischen Einlassungen, weil sie darauf angelegt sind, jede Kritik abzuwehren. So interpretiert sie eine These H.Arendt, wonach "das Böse im Geiste engstirniger Borniertheit begangen" werde, folgendermaßen: "Damit hat sie allerdings ein Wutgeheul unter den Männern ausgelöst, die ganz richtig, wenn auch nicht unbedingt bewußt, begriffen, daß eine solche Entlarvung willkürlicher Gewalt das Patriarchat in Frage stellt." — Dazu wäre zu sagen, daß Arendt nicht von dem Bösen im allgemeinen spricht, sondern von einer besonderen Art. Zweitens gibt die Autorin keine Begründung für ihre eigene Patriarchatsthese. Und schließlich haben die Kritiker nicht deshalb der Arendtschen Behauptung von der Banalität des Bösen widersprochen, weil sie eine männliche Perspektive einnahmen, sondern weil die Behauptung für den besonderen Fall falsch ist, nämlich den Tatsachen, der wirklichen Erfahrung widerspricht. So besonders überzeugend Jean Améry. – H.Arendt, zuerst mit G.Anders, dann mit H.Blücher verheiratet, befreundet mit Heidegger, Benjamin und Jaspers, war eine selbstbewußte Frau, aber doch zu klug, um eine Feministin zu sein. Man sollte sie nicht auf das vielzitierte falsche Schlagwort festlegen; andernorts hat sie über das radikal Böse durchaus Nachdenkenswertes geschrieben.
Ein Kapitel für sich sind die eingestreuten Gedichte der Autorin und die beigefügten Kommentare. Sie erwähnt darin eine so aparte rhetorische Figur wie Apokoinu. Der Begriff kommt von >schema apò koinoú<, wobei >koinós< >gemeinsam< bedeutet. Gemeint ist eine Konstruktion mit einem Ausdruck, der als syntaktisches Element für zwei Sätze oder Satzteile fungiert. Obwohl sie auf die Verse offenbar großen Wert legt, wird doch nicht recht klar, ob sie letztlich mehr sind als Stilübungen. Es steht ihr wie jedermann frei, Celan oder Kästner zu kritisieren. Als Autorin muß sie aber damit rechnen, daß ihre eigenen Verse genauso streng beurteilt werden, wie sie diese Dichter beurteilt.
Und damit hängt wiederum eine kleine Polemik gegen Adorno zusammen: "So gut reden hab ich wie die anderen, Adorno vorweg". Sie bezieht sich auf das häufig zitierte, selten genau erfaßte Diktum über die Lyrik nach Auschwitz, und auch hier bleiben einige Zweifel, ob sie wirklich enträtselt hat, was der zugegeben schwierige Dialektiker mit seiner Argumentation sagen wollte.
Zu dem Bericht über die späteren Jahre wäre zu bemerken, daß darin gelegentlich Züge auftauchen, die man nur rousseauistisch nennen kann. Sie sind mit einigen erzähltheoretischen Problemen verbunden, die eine genauere Analyse erforderten.
Von den Reflexionen, die Zustimmung verdienen, wäre eine Bemerkung über Dostojewski und Schiller zu nennen und der Gedanke, daß es, entgegen einer neueren psychologischen Konvention, auch ein gesundes Vergessen gibt. Die Bemerkung und der Gedanke sind nicht neu, statt dessen aber wahr. Der Gedanke hat übrigens in einem literarischen Werk längst einen vollendeten Ausdruck gefunden. Unerfindlich bleibt allerdings, wie jemand Schiller verehren kann, ohne einen Sinn für Kriminalgeschichten zu haben. Wie geht das zusammen? Hat er nicht selbst zu diesem Thema gesagt:

In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen.

J.Q.   —   1.Okt. 2002

©J.Quack


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