Josef Quack

Der Begriff der Selbstliebe

Dieter Thomä, Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem. Frankfurt 2007.



Der Mensch wird in seinen verschiedenen Lebensstufen wohl ein anderer, aber er kann nicht sagen, daß er ein besserer wird.

J.W.Goethe

Da ich in Altersfragen allmählich mitreden darf, möchte ich Goethe hier in doppelter Hinsicht widersprechen durch die Meinung, daß der Mensch zwar kein anderer, wohl aber ein besserer wird.

E.Jünger

Klein ist die Schar der akademischen Philosophen, die nicht nur produktiv denken, sondern auch verständlich und lesbar schreiben können. Zu diesem exquisiten Club gehört auch Dieter Thomä. Dafür spricht in überwältigender Form sein Werk über die Lebensgeschichte als philosophisches Problem. Und es ist nicht das geringste Verdienst der luziden Studie, daß sie Peter Bieri darin bestärkt hat, in seinem Buch über das Handwerk der Freiheit das Erzählen als Methode der philosophischen Darstellung zu übernehmen. Es gibt nämlich philosophische Themen, die sich nur explizieren lassen, indem man erzählt. Das Erzählen wird zum Merkmal philosophischer Genauigkeit, weil sich nur so Handlungen darstellen lassen.
In der philosophischen Literatur herrscht eine ewige Verlegenheit, wenn es um Beispiele für die vorgetragenen Thesen geht, ihre Veranschaulichung. Meist werden immer dieselben Exempel wiederholt, oft sind sie von weltfremder Komik. Nicht so bei Thomä und Bieri. Das große Vorbild in dieser Hinsicht ist natürlich Kierkegaard, der darin schon Sartre beeinflußt hat, der als Romancier und Dramatiker freilich über Gaben verfügte, die den meisten Philosophen versagt sind, Bieri wieder ausgenommen.
Dieter Thomä ist aber nicht nur einer der wortgewandtesten und stilsichersten Autoren unter seinen Kollegen, sondern auch ein Philosoph, der in der Schönen Literatur, von Kleist oder Hölderlin bis zu Proust und Musil, zu Hause ist wie keiner der Philosophen der Gegenwart. Seine literarische Bildung ist immens, die Belege und Zitate, die er daraus anführt, sind zahlreich und immer erhellend. Auch ist er ein geschickter Lehrer, der seinen Text übersichtlich gestaltet, die einzelnen Schritte des Gedankengangs jeweils im Vorblick genau umreißt und die Ergebnisse im Rückblick klar zusammenfaßt. Er läßt den Leser niemals im dunkeln, an welcher Stelle sich die Argumentation befindet. Und statt den Haupttext damit zu belasten, hat er die kleinteilige Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur in den Anmerkungsteil verbannt, der immerhin ein Fünftel der Arbeit umfaßt. Man muß nicht die Fußnoten durchackern, um den Hauptteil zu verstehen. — Der exzellenteste Vorzug eines klaren Textes besteht jedoch in jenem Moment, das eine Theorie erst zu einer rationalen oder wissenschaftlichen macht: ein klar formulierter Text stellt sich der kritischen Überprüfung, der rationalen Kontrolle. Sagt nun, kann man höflicher sein?
Daß Thomä die Literatur in diesem Ausmaß berücksichtigt, geht aber nicht auf eine persönliche Laune des Autors zurück, sondern ist vom Thema gefordert. Er untersucht die Bedeutung erzählerischer Verfahren in verschiedenen Konzeptionen der Lebensgeschichte. Dabei orientiert er sich an der von ihm so genannten "autobiographischen Triade", die zwischen Erzähler, Protagonist und Person unterscheidet. Und er stellt fest, daß Theorien der Selbstfindung, wie sie Alasdair MacIntyre vertritt, den Akzent auf die Rolle des Protagonisten legen, während Theorien der Selbsterfindung, wie sie Richard Rorty und Friedrich Nietzsche vertreten, den Erzähler favorisieren. Nach seiner Meinung überschätzen die Vertreter der Selbstbestimmung, Kierkegaard, Jürgen Habermas und John Rawls, dagegen den Status der Person und sie ignorieren das Problem der Autorschaft. Sein Fazit lautet:

So wäre ich froh, wenn in Zukunft bei der Rede von Selbstbestimmung mehr Vorsicht walten würde, wenn man auf die Verwendung der Begriffe Selbsterfindung und Selbstfindung ganz verzichtete und wenn es mir gelänge, die Neugierde auf den Begriff der Selbstliebe wieder zu wecken. Denn erst im Licht der Selbstliebe läßt sich die Beziehung zwischen Erzählung und Leben, die sich zunächst, trotz aller Avancen, gegeneinander sperren, plausibel beschreiben.(39)

Seine Studie hat also einen kritischen und einen positiven Teil. Was seine Kritik angeht, so überzeugt sie nahezu uneingeschränkt in dem, was er gegen die Konzepte der Selbstfindung und Selbsterfindung vorbringt; das letzte hat besonders in der literaturwissenschaftlichen Forschung eine Rolle gespielt, die so prominent wie unheilvoll war. Goldene Worte findet er in seiner Kritik der ‚Selbstverwirklichung', die er für ein begriffliches Mißgeschick hält:

Sie unterstellt, daß sich ein erst mögliches Selbst nur realisiert. Dann müßte aber auch ein Abgleich möglich sein, bei dem man Verwirklichtes und Mögliches miteinander vergleicht, und das Selbst, das sich erst verwirklichen will, wäre zu dem frustrierenden Eingeständnis gezwungen, daß es derzeit nur möglich, also vorerst abwesend. (69)

Seine Einwände gegen die Theorie der Selbstbestimmung scheinen mir nicht in allem zuzutreffen. Nicht überzeugen kann sein Haupteinwand gegen diese Position. Er bestreitet, daß die Orientierung an einer moralischen Verpflichtung die Frage, wie zu leben sei, beantworten könne, weil dabei unterstellt werde, daß man das Sollen wollen müsse. Das aber ist nicht plausibel, wie die genauere Analyse eines Beispiels zeigen kann. In einer angenommenen Situation wird die Forderung gestellt:
(1) Ich soll, statt weiter zu feiern, aus familiären oder beruflichen Gründen jetzt nach Hause gehen.
Darauf folgt die Überlegung:
(2) Ich sehe ein, daß es ratsam oder moralisch geboten ist, jetzt nach Hause zu gehen.
Endlich kommt es zu dem Entschluß:
(3) Ich will nach Hause gehen.
Anders als von Thomä behauptet, bezieht sich 'ich will' nicht auf den Modus, sondern auf die Proposition des Sprechaktes: ich will nicht das Sollen; sondern ich will das Gesollte. Genauer: ich will das Gesollte oder moralisch Gebotene ausführen.
Im positiven Teil der Studie arbeitet Thomä den Begriff der Selbstliebe heraus, der in der Philosophie seit Rousseau keine bedeutende Rolle mehr gespielt hat. Die Beschreibungen, die er für das Phänomen anbietet, leuchten durchweg ein, jedoch sind die Folgerungen, die er daraus zieht, nicht alle schlüssig. Die Selbstliebe teilt mit der Liebe oder Freundschaft die Eigenart, daß sie als Zuneigung gegenüber der eigenen Person pauschal ist und großherzig mehr umfaßt als nur die feststellbaren Qualitäten, die man selbst hat. Formal läßt sie sich als Bereitschaft charakterisieren, "dem eigenen Leben zugeneigt zu sein". Und als pauschale Zuneigung muß man ihr Unausschöpflichkeit attestieren. So kann Thomä erklären, die wahre Selbstliebe sei identisch mit Glücklichsein, nämlich dem Gefühl, mit sich im reinen zu sein, einer psychologisch-ontologisch zu verstehenden Stimmigkeit.
Soweit ist die Beschreibung erhellend. Nicht überzeugen kann aber die daran anschließende Behauptung, wie frei man sich fühle, hänge davon ab, wie glücklich man sei. Erinnert sei nur an das Diktum Lessings: "Nicht alle sind frei, die ihrer Ketten spotten". Auch bleibt die bedauerliche Tatsache unberücksichtigt, daß es immer Menschen gegeben hat, die ihr Glück gerade in der Unfreiheit sahen, womit nicht nur materielle Abhängigkeitsverhältnisse gemeint sind, sondern alle Formen eines gesellschaftlichen oder geistigen Konformismus, z.B. auch der Konformismus der Harmlosigkeit in der Philosophie.
Überdies wendet Thomä sich ein wenig blasiert, durchaus in der Tradition der angelsächsischen Armstuhlphilosophen, gegen die Frage nach dem Sinn des Lebens — mit dem verräterischen Zusatz: "wenn man von dem Versuch, Hand an sich zu legen, absieht". Daß er jene Frage ausgerechnet unter Berufung auf Walter Benjamins Erzähltheorie für verfehlt hält, entbehrt nicht der bittersten Ironie. Hier scheint ihn sein Sensorium für die Tatsachen der Lebenserfahrung im Stich gelassen zu haben, handelt es sich doch um eine Frage, die jedermann sich stellt, und genauer betrachtet ist sie auch im Begriff der Selbstliebe impliziert.
Schließlich behauptet Thomä, daß die Frage, wie es mir gehe, primär sei gegenüber den Fragen, wer ich bin oder wer ich sein will — ohne zu sehen, daß die nicht trivial, sondern ernsthaft gemeinte Frage, wie es mir geht, offensichtlich doch davon abhängt, wer ich bin. Denn die Selbstliebe, die in der besten Umschreibung bedeutet, daß ich mit mir im reinen bin, setzt doch voraus, daß ich weiß, wer ich bin, d.h., was für ein Mensch ich bin. Die Befindlichkeit eines Menschen hängt von seiner Beschaffenheit ab, wobei man Thomä konzedieren mag, daß die Befindlichkeit gelegentlich auch die Beschaffenheit beinflussen kann.
Das bedeutet aber nichts anderes, als daß die Selbstwahl fundamentaler ist als die Selbstliebe. Übrigens gibt es zwischen den beiden Phänomenen, die Thomä angemessen beschreibt, eine strukturelle Analogie, auf die er aber nicht eigens aufmerksam macht. Beides sind Phänomene der Überbietung — und insofern mit einem Moment der Fiktionalität behaftet. Bei dem einen Phänomen übernimmt man die Verantwortung für das Leben im ganzen, auch für Ereignisse, die man nicht verursacht hat; bei dem anderen ist die Zuneigung von alles umfassender Großzügigkeit. Daß die Selbstliebe der Selbstwahl nachgeordnet ist, ergibt sich erst recht, wenn man die Selbstwahl in Heideggers Deutung als Selbstbekümmerung oder Sorge versteht. Danach ist der Mensch oder das Dasein ein Seiendes, dem es um sein Zu-sein geht.
Es bleibt festzustellen, daß Thomä trotz mancher hilfreichen Unterscheidung und Präzisierung nicht durchwegs die analytische Schärfe der Begriffsbestimmung erreicht, die etwa Ernst Tugendhat eigen ist. Thomä hat vielfach die schlechte Terminologie des substantivierten Ich oder Selbst übernommen, ohne immer zweifelsfrei zu sagen, was damit sinnvoll gemeint ist. Leider ist diese unsägliche Diktion selbst in Übersetzungen des Aristoteles eingedrungen, was, wie diesmal Thomä richtig zeigt, nur zu Mißverständnissen führt.
Des weiteren ist sein Hang zu Wortspielen, zu Abweichungen von der sprachlichen Norm zum Zweck pointierter Beschreibung, nicht immer erhellend. Durchaus plausibel ist die Wortbildung ‚Gelebe' in Analogie zu ‚Getue' und ‚Gehabe'. Nicht ganz glücklich ist die Titelformulierung ‚erzähle dich selbst' frei nach dem Muster ‚erkenne dich selbst'. Was das heißen soll, wird erst im Kontext der Theorien der Selbstfindung und Selbsterfindung klar, die die erzählte Lebensgeschichte überstrapazieren. Nicht anfreunden kann ich mich mit einer seiner Lieblingsvokabeln: ‚umgetrieben werden'. Sie stammt aus dem erbaulichen Jargon der neuen, allzu nebulosen evangelischen Theologie, die in ihrer wolkigen Unverbindlichkeit eben den Ernst vermissen läßt, den Kierkegaard einst einforderte. Mit der Vokabel ist ein Punkt berührt, wo der seriöse Essay in Feuilletonismus abzugleiten droht.
Was Thomäs Rekurs auf die romankritische Erzähltheorie von Lukàcs und Benjamin angeht, so hätte er über die Kritik des psychologischen Romans und über das moderne epische Erzählen weitaus fruchtbarere Gedanken bei Alfred Döblin finden können, von dem Benjamin insgeheim abhängig ist und der nicht nur ein scharfsinniger Theoretiker, sondern auch ein brillanter Praktiker der verhandelten Sache war.
Es wäre natürlich reizvoll, im Anschluß an Thomäs Theorie der Selbstliebe jene Phänomene zu untersuchen, die im Kontrast dazu stehen: den so häufig mißverstandenen und polemisch mißbrauchten Begriff des Selbsthasses und das davon völlig verschiedene Bestreben einiger Menschen, von sich selbst loszukommen und darin ihren Seelenfrieden zu finden. Das eine Phänomen streift Thomä nur kurz, das andere, das er nicht in Betracht zieht, hat Tugendhat in Egozentrizität und Mystik (2003) ausführlicher erörtert.
Es bleibt Thomäs Verdienst, daß er den Begriff der Selbstliebe wieder zu philosophischen Ehren gebracht hat. Seine Arbeit hat die Funktion eines Korrekivs, er macht auf ein Phänomen aufmerksam, das in der philosophischen Theorie des Subjekts seltsamerweise meist übersehen wurde. Er beschreibt einen sinnvollen Ansatz, wie man verstehen kann, was persönliche Authentizität bedeutet, und er teilt treffende Einsichten mit, worin die individuelle Einzigartigkeit bestimmter Erlebnisse genau liegt. Obwohl er eine riesige Menge von Sekundärliteratur berücksichtigt, zeigt doch seine Arbeit, daß es mehr bringt, sich mit Kierkegaard, Nietzsche oder Rousseau auseinanderzusetzen als mit den Schriften akademischer Namen, die gerade en vogue sind. Alles in allem ein Buch, das zu lesen sich lohnt und dessen Gedanken des Nachdenkens wert sind.

J.Q.   —   7. Juni 2007

©J.Quack


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