Josef Quack

Simenon auf deutsch
«Drei Zimmer in Manhattan»




In meinem Buch Leidenschaft im Werk Simenons war ich leider auf die deutsche Ausgabe von Drei Zimmer in Manhattan (dt. Hansjürgen Wille, Barbara Klau. Köln 1959) angewiesen, weil das französische Original nicht aufzutreiben war. Nun habe ich Trois chambres à Manhattan (1946; Paris 2018) gefunden und bin bestürzt über die gravierenden Mängel der deutschen Fassung. Ich habe natürlich gemerkt, daß sie höchst unvollkommen ist. Sie schien mir irgendwie steif und trocken, farblos, ihr fehlte vor allem der Sog der originalen Prosa, der den Leser an den Text fesselt.

Nun kann ich genau sagen, daß die Übersetzer zwei schwere Fehler begangen haben. Ihrem Text fehlt ein eingängiger sprachlicher Rhythmus, wie er für Simenons Prosa charakteristisch ist, und ihrer Übersetzung fehlt die Einsicht in den genauen Sinn des Romans, d.h. sie haben das Thema des Romans in seinen Nuancen nicht verstanden.

Für Simenons Prosa ist der Rhythmus so sehr prägend, daß sein Biograph, Pierre Assouline, sagen konnte: „Le style, c’est le rhythme“ (Der Stil, das ist der Rhythmus). Dieser Mangel hängt dann auch damit zusammen, daß die Übersetzer den Text ungenau wiedergeben oder ihn gedankenlos verkürzen. Zweitens fehlt ihnen die Einsicht in das eigenartige Thema des Romans, was sich wiederum darin zeigt, daß sie gerade die Feinheiten des Themas übersehen und unterschlagen.

Der Roman handelt von einem berühmten französischen Schauspieler, der in New York lebt und eines Nachts in einer Bar eine einsame Frau europäischer Herkunft trifft, mit der er stundenlang durch die nächtlichen Straßen geht, bis sie ein Hotel aufsuchen. In der Folge nehmen sie eine leidenschaftliche Beziehung auf. Die konzentrierte Darstellung und genaue Analyse der erotischen Leidenschaft ist das Thema des Romans, ein Novum im Werk Simenons.

Ich gebe im folgenden wortwörtliche Übertragungen der französischen Sätze, ohne Rücksicht auf die fehlende Eleganz, um den Lesern die Ungenauigkeit der deutschen Ausgabe vorzuführen. Dabei wäre zu beachten, daß Simenon gerne Adverbien und andere Umstandsbestimmungen unverbunden in den Satz einfügt, um dessen Ablauf einzuteilen und zu akzentuieren - ein signifikantes Mittel des rhythmischen Gefüges.

Der Roman beginnt, wörtlich übersetzt, mit folgenden Worten: „Er hatte sich plötzlich erhoben, entnervt, um drei Uhr am Morgen, sich wieder angezogen, wäre beinahe weggegangen ohne Krawatte, in Pantoffeln, den Kragen des Überziehers hochgeschlagen, wie manche Leute, die ihren Hund am Abend oder am Morgen zu früher Stunde spazierenführen. Dann, einmal im Hof dieses Hauses, das, nach zwei Monaten, ihm niemals gelungen war, als ein wahres Haus zu betrachten, mechanisch den Kopf hebend, hatte er gemerkt, daß er vergessen hatte, sein Licht zu löschen, aber er hatte nicht den Mut gehabt, wieder hochzugehen.“ (fr. 7).

Der Satz ist typisch für die Romananfänge bei Simenon. Es sind gewöhnlich verschlungene Sätze, die eine Situation möglichst genau und dicht beschreiben, und sie sollen gleichsam als Prolog die Laune und Stimmung andeuten, in der die Personen des Romans sich befinden. Sie geben sozusagen die Tonart an, in der der Roman verfaßt ist.

Der deutsche Text aber lautet: „Wütend war er um drei Uhr morgens aus dem Bett gesprungen, hatte sich wieder angezogen und wäre fast ohne Krawatte, in Pantoffeln und mit hochgeschlagenem Mantelkragen hinuntergegangen, wie manche Leute, die abends oder am frühen Morgen ihren Hund spazierenführen. Als er dann im Hof des Hauses war, das ihm, obwohl er schon zwei Monate hier wohnte, immer noch fremd vorkam, hatte er mechanisch den Kopf gehoben und gesehen, daß er vergessen hatte, das Licht auszumachen, aber er hatte keine Lust gehabt, noch einmal hinaufzugehen.“ (dt. 5)

Der originale Text beginnt mit der genauen Reihenfolge des Geschehens, die man als analytische Beschreibung bezeichnen kann: Subjekt, Verb, Adverb, Partizip, Zeitangabe, zweites Verb, das die nachfolgende Handlung beschreibt, dann die Handlung beschreibend, die das Subjekt fast vollzogen hätte. Die Handlung im Hof wird mit einer komplizierten Konstruktion beschrieben, die genau das Gefühl des Mannes für das Haus wiedergibt. Hier ist es sein andauerndes Fremdheitsgefühl.

Dagegen mißachtet der deutsche Text die Wortfolge des französischen Satzbaus, den man im Deutschen mit wenigen Umstellungen genau abbilden kann, und beginnt: Partizip, Kopula, Zeitangabe, Partizip, zweites Verb ... „Sich plötzlich erheben“ wird wiedergegeben als „aus dem Bett springen“, „nach zwei Monaten“ wird ergänzt „schon zwei Monaten hier wohnte“; „nicht gelingen …“ heißt „immer noch fremd vorkommen“.

Während die Übersetzer den Anfang teils komprimieren, teils erweitern, haben sie den übernächsten Satz, der im Französischen wiederum einen eigenen Rhythmus hat, banalisierend verkürzt: „Erbrach sich Winnie bereits unter dumpfen Stöhnen, das sich dann zu einem lauten Schluchzen steigerte“ (dt. 5) Auf französisch liest man, wörtlich übersetzt: „Erbrach sich Winnie schon? Das war wahrscheinlich. Stöhnend, dumpf zuerst, dann mehr und mehr stark, um zu enden mit einer unbegrenzten Krise von Schluchzen.“ (fr. 7)

Man sieht, den Übersetzern fehlt jedes Gespür für die Feinheiten des französischen Satzbaus, der im Deutschen zwar einige Änderungen verlangt, aber doch vielfach in ähnlicher Wortfolge wiedergegeben werden kann. Sie haben offensichtlich keinen Sinn für den Rhythmus der Simenonschen Prosa und infolgedessen versuchen sie auch gar nicht, ihren Text rhythmisch zu gliedern. Doch vermute ich sogar, daß sie überhaupt keinen Sinn für den Schwung und den Takt einer Prosa haben.

Dieser Mangel ist schon schlimm genug. Doch kommt hinzu, daß Wille und Klau den Sinn des Romans, d.h. die thematische Bedeutung des Textes, überhaupt nicht verstanden zu haben scheinen. In dem Werk wird die Geschichte einer Leidenschaft erzählt, es ist eine Analyse dieser Passion, die erste und exemplarische Darstellung dieser gefühlshaften Einstellung, die Simenon beschrieben hat, und er teilt darin eine Entdeckung mit, die ihn selbst überrascht hat.

Diese Beobachtung findet sich schon auf der zweiten Seite, wo wiederum das Verhalten Winnies beschrieben wird, der Unbekannten, die mit dem Nachbarn der Hauptperson, die eingangs erwähnt wird, eine Beziehung unterhält: „Wie konnte sie sich in so kurzer Zeit auf die Art entfesseln? Niemals hatte er sich eine solche Gewalt in der Leidenschaft vorgestellt, eine solche Wildheit ohne Hemmung.“ (fr. 8). Auf deutsch heißt es, um das entscheidende Moment explizit verkürzt: „Aber wie war es möglich, daß sie dann in so kurzer Zeit jede Hemmung verlor? Nie hätte er gedacht, daß es eine solche wilde Leidenschaft gab.“ (dt. 6)

Die psychologische Entdeckung, um die es Simenon geht, besagt, daß die erotische Leidenschaft überraschenderweise meistens ein Moment der Gewalt enthält – und genau dieses Moment wird an dieser Stelle in der deutschen Ausgabe unterschlagen. An späterer Stelle schildert auch die Übersetzung einen Akt der gewalttätigen Leidenschaft (dt. 43). Mir ist aber entgangen, daß im Original dieses Moment schon auf der zweiten Seite so klar und deutlich wie möglich beschrieben wird – was natürlich seine Bedeutung wesentlich unterstreicht. Wenn ich den französischen Text gekannt hätte, hätte ich diesen Gedanken stärker betonen können.

Aber jener Akt wird wiederum, ohne jeden Grund, ungenau übersetzt: „Aber gerade als er dies dachte, fühlte er, wie eine wilde Leidenschaft in ihm aufstieg, ein Verlangen, alles auszulöschen, alles zu vergessen, Besitz von ihr zu ergreifen. Mit der wütenden Gier, die ihm einen starken und unheimlichen Ausdruck gab, preßte er sie an sich, tat er ihr Gewalt an, als ob er sich von seiner Begierde ein für allemal befreien wollte.“ (dt. 43)

Wörtlich übersetzt heißt es: „Und gerade, als er daran dachte, fühlte er sich erhoben von einem mächtigen Zorn, einem Bedürfnis, alles auszulöschen, alles aufzuzehren, alles sich zu eigen zu machen. Wütend, mit einer Bosheit, die seine Pupillen starr und erschreckend machte, drückte er sie in seine Arme, bog er sie zurück, rammte sich in sie ein, als ob er ein für allemal mit seiner Besessenheit ein Ende machen wollte“ (fr. 46f.).

Die Details der Schilderung unterdrückend, schwächen Wille und Klau den Eindruck der Vergewaltigung ab, den die Szene hervorruft, und den moralischen Begriff der Bosheit (méchanceté) durch „Gier“ ersetzend, vertuschen sie, daß die Szene moralisch bewertet oder ausgezeichnet wird. Nach dem Originaltext wäre also zu präzisieren, daß Simenon annimmt, daß Zorn und Bosheit mit der erotischen Leidenschaft verbunden sein können.

Daß die Darstellung der Leidenschaft ein moralisches Moment enthält, das Bewußtsein des Handelnden von seiner Bosheit, ist der wichtigste Gedanke, der in der deutschen Fassung unterschlagen wird, geht es dabei doch um eine neue Dimension der Leidenschaft.

Übrigens hat Simenon die Frage, ob es einen durch und durch bösen Menschen wirklich gibt, in einem späteren Detektivroman behandelt, in Un échec de Maigret (1956; Ein Mißerfolg Maigrets). Es geht darin um das Problem, ob Maigret es hier tatsächlich mit der reinen Bosheit (la méchanceté pure) zu tun hat, einem Beispiel des moralischen Nihilismus (cf. J.Q., Die Grenzen des Menschlichen. S.62.). An diesem Fall erkennt man zweierlei: Erstens, daß Simenon den Gedanken für wichtig hält, und zweitens bestätigt der Fall, daß Simenon in den Maigrets gelegentlich heiklere Themen behandelt als in seinen "harten" Romanen. Freilich hat er den fraglichen Gedanken in Trois chambres à Manhattan immerhin explizit genannt.

Hier noch eine Reihe weiterer Belege der ungenauen, oft verfälschenden Übersetzung. „Ardeur“ (fr. 54, Glut, Hitze) wird mit „Leidenschaft“ wiedergegeben (dt. 50); „deux êtres“ (fr. 55, zwei Wesen) mit „Menschen“ (dt. 51); „rendre compte“ (fr. 57, sich Rechenschaft geben) mit „sich bewußt werden“ (dt.53); das unbestimmte „à quoi“ (fr. 57, wovon) mit „Tristheit“ (dt. 53); „intensité“ (fr. 57, Eindringlichkeit, Stärke) mit „Größe“ (dt. 53). Im folgenden wird das aktive Tun in einen unpersönlichen Trieb umgewandelt: „Man hätte gesagt, daß er darauf drang, mit einer Art Sadismus, sie alle Orten besuchen zu lassen, die sie zusammen gekannt hatten“ (fr. 90). „Man hätte sagen können, daß ihn eine Art Sadismus dazu trieb …“ (dt. 83). In dem Satz, daß er vor ihr niedersank (dt. 90), ist der entscheidende Umstand ausgelassen: „wie von aller Substanz entleert“ (fr. 97).

„Gentiment“ (fr. 108, liebenswürdig) wird auf deutsch durch „ohne Hintergedanken“ (dt. 99) ersetzt. „Ihre Körper konnten sich entknoten. Sie hatten dieses Mal nicht den Groll zu fürchten, der der Leidenschaft folgt“ (fr. 116); auf deutsch: „Sie konnten sich voneinander lösen, ohne diesmal den Katzenjammer fürchten zu müssen …“ (dt. 106).

Weniger wörtlich übersetzt als frei interpretiert ist dieser Passus: „Er hatte ein wildes Verlangen, ein schmerzhaftes Bedürfnis nach der Gegenwart Kays und dennoch benahm er sich wie ein normaler Mensch und überraschte sich, großzutun, mit mehr Lebhaftigkeit, als er gemußt hätte, von seinen Theatererfolgen zu sprechen. / Der Rattenkopf war nicht da. Es gab andere Personen, die er nicht kannte und die vorgaben, seine Filme gesehen zu haben.“ (fr. 161) Die deutsche, ungenaue, verfälschende Fassung lautet: „Er hatte eine wilde Sehnsucht, ein schmerzhaftes Verlangen nach Kay, und dennoch prahlte er, als ob er sich vor ihr ins rechte Licht setzen wollte, mit seinen Theatererfolgen. Der Geldgeber war an diesem Abend nicht da. Dafür waren andere erschienen, die er nicht kannten und die behaupteten, ihn aus seinen Filmen zu kennen.“ (dt. 150f.)

Ein letztes Beispiel willkürlicher Verdeutschung: „Hier zwei Wesen, die, jedes auf seiner Seite, auf der Oberfläche des Globus kreisten, die wie verloren sind in den Tausenden Straßen, eine wie die andere, in einer Stadt wie New York. / Und das Schicksal macht, daß sie sich begegnen.“ (fr. 163) Auf deutsch: „Waren sie nicht im Gewimmel der großen Stadt mit den Tausenden von Straßen, die sich alle gleichen, mutterseelenallein gewesen, bis das Schicksal sie zusammengeführt hatte?“ (dt. 152)

Die Beispiele dürften ausreichen, um das völlige Ungenügen dieser Übersetzung zu erweisen, ihre Ungenauigkeit, Mangelhaftigkeit, Willkürlichkeit, nicht zu reden, daß ihr jeder halbwegs angemessene Rhythmus fehlt. Die deutsche Ausgabe erfüllt nicht einmal die notwendigen Voraussetzungen einer Übersetzung: die genaue Kenntnis der Muttersprache und der Fremdsprache, die Erkenntnis der stilistischen und rhetorischen Eigenarten des anderssprachigen Textes, der Versuch, im Deutschen eine analoge Diktion zu finden, die Erkenntnis des Sinnes des zu übersetzenden Textes. Denn der Sinn, das Thema des Werkes ist der Kontext, der die Wortwahl der Übersetzung letztlich bestimmt.

Nichts davon findet sich in dieser kläglichen Verdeutschung eines der wichtigsten Romane Simenons. Mein Bedauern, das Original bei der Niederschrift der Leidenschaft im Werk Simenons nicht gekannt zu haben, ist groß. Für die Übersetzer aber habe ich nur ein paar kräftige Verwünschungen übrig.

J.Q. — 2. Jan. 2024

© J.Quack


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