Josef Quack

Fetisch Reform

Die Affäre der Neuen Rechtschreibung

 



Verschiedene Menschen empfinden es sehr verschieden stark, wenn die Rechtschreibung eines Wortes geändert wird. Und die Empfindung ist nicht nur Pietät für einen alten Gebrauch. — Wem die Orthographie nur eine praktische Frage ist, dem geht ein Gefühl ab, nicht unähnlich dem, welches einem 'Bedeutungsblinden' mangeln würde.

L.Wittgenstein

Mit was für Gewissen kann ein Mann, der so sehr auf bestimmteste Deutlichkeit der Gedanken und eine sorgfältige Treue in Kleinigkeiten dringt, die kleinen orthographischen Hilfsmittel zur Deutlichkeit und besseren Bestimmung der Begriffe aus dem Weg räumen?

J.G.Hamann

Die einmal staatlich anerkannte Dummheit kann zu einem Merkmal der Bildung werden.

H.F.Wendt

So ärgerlich die Pseudoreform der Rechtschreibung im ganzen, so absurd sie im einzelnen ist, so bietet dem zeitgenössischen Beobachter doch das frappierende Schauspiel eines kollektiven Irrationalismus. Der Reiz ist vergleichbar dem Interesse, das Mediziner empfinden, wenn sie auf ein besonders abartiges Krankheitsbild stoßen. Die Interaktion einzelner Gruppen — Kulturpolitiker, Ministerialbürokraten, Schulbuchverleger, Presseagenturen, Zeitungskonzerne, Redaktionen, Cliquen von Sprachwissenschaftlern —, die für sich genommen ihr wohlverstandenes Eigeninteresse verfolgten, also zweckrational handelten, in dieser Absicht die Rechtschreibung aber instrumentalisierten, ergab in der Summe einen Tatbestand, den man nur als Unsinn und Unfug bezeichnen kann. Auf der Strecke blieb das, worum es eigentlich gehen sollte: die Schriftform der Sprache. Alle möglichen Interessen wurden berücksichtigt, sachliche Argumente aber hatten keine Chance. Zwar wurden die offensichtlichsten Unstimmigkeiten bald bemerkt, und man sah ein, daß die Pseudoreform dringend reformbedürftig ist; zu einer radikalen Remedur des mißratenen Regelwerks konnte es rebus sic stantibus aber nicht kommen.
Wie aber hat es überhaupt zu dieser Reform kommen können, bei der anfangs, in der Mitte der neunziger Jahre, alle Zeitungen mitmachten, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung das Vorhaben für überflüssig hielt? Warum konnte die orthographische Mißgeburt nicht durch einen Einspruch des obersten Gerichts aus der Welt geschafft werden? Zu erklären ist dies nur aus der damaligen politisch-gesellschaftlichen Situation, vielmehr aus der medialen Deutung der Lage, die als eine Situation des Reformstaus beschrieben wurde. Da kam die Neue Rechtschreibung gerade recht. Unter dem Etikett der Reform bot sie sich als ein Vorhaben an, das dem Programm der Modernisierung und des Fortschritts in idealer Weise zu entsprechen schien. So läßt sich, genau genommen, das Vorhaben nur aus einem zutiefst irrationalen, jeder Aufklärung spottenden Motiv erklären: dem Fetischcharakter der Reform- und Modernisierungsphrase.
Der Naivität der Reformer und Modernisierer entspricht aufs treffendste ihre Ignoranz ausgerechnet gegenüber jener Sphäre, bei der man mit Recht von Fortschritt sprechen kann: der Computertechnik. Denn ein immer wieder vorgebrachtes Argument für die angebliche Vereinfachung und Vereinheitlichung der Schreibung des Deutschen war die Rücksicht auf Textprogramme, die nicht in der Lage seien, eine so regellose Schreibung wie die des Deutschen fehlerfrei zu verarbeiten. Ähnliches konnte man in den siebziger Jahren hören, als die Kleinschreibung deshalb eingeführt werden sollte, damit die Computer besser zurechtkämen. Damals wie heute hatten die beteiligten Sprachwissenschaftler und Kulturpolitiker keine Ahnung von Programmtechnik und dem Potential ihrer Entwicklung. Längst gibt es Sprachanwendungen, die mit Groß- und Kleinschreibung und den komplizierten Formen der herkömmlichen Orthographie des Deutschen ganz gut zurechtkommen. Und wo es hapert, bieten sie Funktionen, die Verbesserungen und sogar individuelle Anpassungen erlauben. Ergo: die Sprache sollte sich nicht nach der Computertechnik richten, diese hat vielmehr jener zu dienen. Es ist der Geist, der sich den Körper baut.
Ein zweites, nicht minder fatales Motiv der verkorksten Neuerung ist die Verstaatlichung der Rechtschreibung. Und eine der schlimmsten Folgen ist die blinde Staatshörigkeit der Beteiligten, die die Vorschriften in die Praxis umsetzten: angeblich unabhängige Zeitungen und Verlage, untertänige Lehrer und Hochschullehrer, der Rest der Beamtenschaft, die wie gehabt willfährig ausführt, was man ihr befiehlt. Und die überflüssig vorhandenen Akademien des Landes haben in dieser Frage alle versagt. Wenn sie überhaupt protestierten, kam ihr Einspruch ein ganzes Jahrzehnt zu spät, und die Form ihres Protestes war so kraft- und wirkungslos, wie man es von Honoratiorenvereinen pensionierter Beamter erwarten konnte. Sie kamen nicht mal in die Nähe der Idee eines drastischen Widerspruchs, wie es die Selbstauflösung einer Sprachakademie gewesen wäre, die in eigner Sache nichts zu melden hat. So viel war ihnen die deutsche Sprache wert.
Reichlich spät haben auch die Schriftsteller der Nation Einspruch erhoben. Es hat ebenfalls nichts genutzt. Sie konnten nur durchsetzen, daß ihre eigenen Werke in bewährter Orthographie gedruckt werden, aber nicht mal ihre Verlage veranlassen, die Pseudoreform zu ignorieren. Auch Reich-Ranicki, der bei jeder Gelegenheit als der einflußreichste Literaturkritiker der Nation apostrophiert wird, konnte mit seinem späten Protest nichts bewirken. Man feiert ihn, aber man hört nicht auf ihn. Und der plaudernde Sprachkritiker Bastian Sick, der für den "Spiegel" schreibt, hat sich nur gegen die ärgsten Auswüchse des Regelwerks gewandt, die Reform im übrigen aber mitgemacht. Wie die intelligenteren Praktiker der Neuerung leidet auch er unter jener Blindheit, von der Wittgenstein gesprochen hat.
Es ist eine gut begründete Vermutung, daß zu Zeiten eines Karl Korn in Deutschland und eines Friedrich Torberg in Österreich die Neue Rechtschreibung keine Chance gehabt hätte, sich durchzusetzen. Hätte ein Kultusminister Hans Maier der unsäglichen Reform zugestimmt? Wohl kaum. Sein Nachfolger aber hat sie befürwortet, und dann hat er Jahre gebraucht, um einzusehen, daß sie ein kapitaler Fehler war. Und jetzt gibt er sich mit einem faulen Kompromiß zufrieden, der in der Hauptsache nichts ändert.
Die mißglückte Reform der Rechtschreibung und die mißratene Reform der Reform passen in den allgemeinen Trend einer kulturellen Desorientierung, deren wichtigste Ursache die Aufgabe der eigenen Tradition ist. Symptomatisch für den geistigen Zustand der Wortführer der Nation, keineswegs für die Mehrheit der Regierten, ist, daß das Programm der Elitebildung in Wissenschaft und Hochschule im Zeichen der Amerikanisierung steht, so kläglich diese bei näherem Zusehen sich ausnehmen mag, nicht im Zeichen der besten deutschen oder europäischen Tradition der Bildung.
Und es ist angesichts der geistigen Situation der Zeit nur ein schlechter Witz, wenn wieder das Schlagwort der Leitkultur hervorgeholt wird. Eine Kultur, die die bewährte Rechtschreibung leichtfertig abgeschafft hat und die unter künstlerischer Freiheit die theatralische Darbietung hysterischen Schwachsinns oder infantiler Ferkeleien versteht — was alles sogar staatlich subventioniert wird —, soll ein Leitbild für Ausländer sein? Ein Land, das auf den Schulhöfen Deutsch als Pflichtsprache einführt und in den Hörsälen Englisch vorschreiben will, erhebt den Anspruch eine eigene Kultur, sogar eine Leitkultur zu haben!
Leider ist Hessen bei dem Unfug wieder einmal vorn. Eine Regierung, die mit ihrer Agitation gegen eine liberale Asylpolitik ans Ruder gekommen ist, unterstützt die Neue Rechtschreibung am energischsten, unbeeindruckt von allen Sachargumenten. In diesem Punkt setzt sie die unkluge Praxis der vorherigen Regierung fort.
Die Neue Rechtschreibung wurde zu einer Affäre, weil sich kulturpolitischer und ministerialbürokratischer Eigensinn gegenüber der sprachlichen Vernunft, bei Kulturvölkern ein unantastbares Gut, durchgesetzt haben. Ein Sieg der Banausie über Bildung und Kultur.

J.Q.   —   28. Feb. 2006

©J.Quack


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