Josef Quack

Was ein Mensch wert ist
"Der Neger"





Wenn mancher Mann wüßte, wer mancher Mann wär,
gäb mancher Mann manchem Mann manchmal mehr Ehr.

Sprichwörtlich

Der Neger (dt. Hansjürgen Wile, Barbara Klau, München 1967. Le nègre, April 1957) ist die Skizze eines Romans, kein bis ins Einzelne durchgeformtes Werk. Zur gleichen Zeit schrieb Simenon innerhalb von anderthalb Jahren drei seiner hervoragenden „harten“ Romane: Der kleine Mann von Archangelsk (April 1956), Der Sohn (Dezember 1956) und Der Präsident (Oktober 1957) (cf. J.Q., Über Simenons traurige Geschichten, S.16; 54ff.; 113ff.). Warum aber hat er sich bei Der Neger mit einer skizzierten Erzählung begnügt und sie nicht zu einer umfassenden Geschichte ausgebaut? Doch wohl deshalb, weil er glaubte, das Thema in dieser knappen Form erschöpfend, am günstigsten darstellen zu können.

Im Mittelpunkt des Romans steht ein Personenporträt, den nur grob, mit den notwendigsten Angaben gezeichneten Hintergrund bildet eine Verbrechensgeschichte in einem nordfranzösischen Dorf in der Nähe von Amiens. Das Hauptthema ist verletzter Stolz und, was sich daraus für den sich verachtet fühlenden Menschen ergibt. Simenon hat in mehreren Romanen ausgeführt, daß dieses Phänomen, die einem Menschen versagte gesellschaftliche Anerkennung, eine besondere Art der Demütigung, eines der mächtigsten Handlungsmotive ist, das man sich überhaupt vorstellen kann (cf. J.Q., Über Simenons traurige Geschichten, S.13).

Der Roman konzentriert sich auf die Darstellung dieser mentalen Einstellung und ihre Folgen, auf die Schilderung eines Menschen, der sich gegen seine gesellschaftliche Zurücksetzung oder Geringschätzung spektakulär zu wehren sucht. Simenon schildert die Hintergrundgeschichte deshalb nicht detailliert, weil es ihm nicht auf den Kriminalfall ankommt, sondern auf das Selbstverständnis und das Verhalten jener Randfigur der Gesellschaft.

Theo Doineau, ungefähr 47 Jahre alt, ist vielfach zu kurz gekommen im Leben. Seine Mutter hat ihn der Fürsorge übergeben. Seine Pflegeeltern haben ihn als „Taugenichts und Nichtstuer“ behandelt. Sein Meister beim Streckenbau hielt ihn für „minderwertig“ (S.5). Er hat ein starres Auge, weil er bei einem Jagdunfall die Sehkraft verloren hatte, und bei der Eisenbahn wurde er Vorsteher eines Dorfbahnhofs, wo morgens und abends nur zwei Züge halten. Seine Frau und seine Tochter sind ihm weggelaufen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Sein ständiger Gedanke aber ist, daß er sich für seinen verletzten Stolz und die verweigerte Achtung rächen werde: „Eines Tages werde ich es ihnen zeigen …“. Das ist der erste Satz des Romans, den Theo ständig wiederholt.

Die Gelegenheit dazu bietet sich eines Tages im Dezember, als ein junger Neger tot mit entstelltem Gesicht neben dem Bahngleis gefunden wird. Man nimmt an, daß er beim Sprung aus dem Zug verunglückt sei. Theo aber hatte ihn gesehen, wie er, ein junger schwarzer Mann mit europäischen Gesichtszügen, mit einem Koffer in das nahe Dorf gegangen ist. Er muß ermordet worden sein, weil er der Enkel des kürzlich verstorbenen Justin Cadieu war, eines reichen Futterhändlers und Fabrikbesitzers. Der Mörder kann nach Theos Annahme nur Nicolas, ein Neffe Cadieus, gewesen sein. Theo aber verschweigt sein Wissen, weil er von dem Mörder sich das Schweigen mit zehn Millionen bezahlen lassen will, um ein Leben als allseits respektierter Mensch führen zu können. Nicolas aber flieht, bevor Theo ihn erpressen kann. Er hat seine Chance verpaßt, die einzige Chance, die er im Leben je hatte (S.57).

Am Ende steht die vollständige Resignation des kleinen Mannes: „Er fand sich mit allem ab“ (S.134). Sein Vorhaben ist nicht nur wegen seiner Trunkenheit gescheitert: „Ich werde es ihnen zeigen … / Nein, nichts. Er hatte ihnen nie etwas zu zeigen gehabt, außer im Licht der Scheinwerfer einen Betrunkenen, der im Schmutz ausgestreckt lag …“ (S.142). Er nimmt seine Tätigkeit auf dem Bahnhof wie gewohnt wieder auf.

Die Geschichte wird aus der Perspektive Theos erzählt, mit innerem Monolog und erlebter Rede. Gelegentlich tritt der Erzähler als Kommentator, Dolmetscher oder Interpret von Theos Gedanken auf, er enthält sich jedoch eines eigenen Urteils. Nachdem Theo den Neger nachts gesehen hatte, bemerkt der Erzähler: „Der Augenblick nahte, und Theo ahnte noch immer nichts. Das Schicksal hatte ihm zwar ein Zeichen gemacht …, aber er hatte es nicht verstanden. … Aber wie hätte er wissen sollen, daß das sein Leben völlig ändern würde, daß das, was sich schon lange ankündigte, im Begriff war, Wirklichkeit zu werden?“ (S.17f.)

Es sind Überlegungen im Sinne Theos, die aber durch den späteren Gedanken konterkariert werden, daß sein Vorhaben nicht nur eine Abrechnung mit Nicolas sei, der seine Tochter geschwängert hatte, sondern auch eine Abrechnung „mit der Menschheit und dem Schicksal“ (S.54). Und wiederum: „Er würde sich an Nicolas rächen und damit zugleich an der ganzen Welt.“ (S.114) Genau genommen, ist sein Vorhaben eine Revolte gegen das Schicksal, eine Sache von höchster existentieller Bedeutung: „Wenn man Nicolas heute abend oder morgen verhaftete, wäre Theos ganzes Leben verpfuscht, verlöre seinen Sinn, denn er würde nie mehr auf seinem Bahnhof glücklich sein“. Für seine unglückliche Lage, für seine Einschätzung als Minderwertiger, aber sind die Anderen verantwortlich: „Es war ihre Schuld. Ohne sie wäre es nicht so weit mit ihm gekommen. Wenn sie ihm nur Achtung gezeigt hätten! Aber vielleicht verstanden sie dieses Wort nicht einmal.“ (S.104)

Klarer und eindringlicher läßt sich das Selbstverständnis eines Menschen, der in dem beschränkten Dorfmilieu zu wenig ästimiert wird und sich deshalb wie ein „Ausgestoßener“ vorkommt, ja kaum ausdrücken (S.133). Eine extrem nüchterne, unsentimentale, aber doch ergreifende Personendarstellung. Ergänzt sei noch, daß gelegentlich auf die politisch-ökonomischen Verhältnisse des Krieges und des Nachkriegs angespielt wird.

Um das postkolonialistische Gewissen zu beruhigen, sei klargestellt, daß hier nicht der Neger, ein ausgebildeter Lehrer, der Unterprivilegierte ist, sondern der weiße Schrankenwärter. Was aber das Wort "nègre" (Neger) betrifft, so sei daran erinnert, daß die französisch sprechenden Afrikaner es übernommen und ihre Kultur als „négritude“ bezeichnet haben.

Die Wertschätzung des Autors dieses objektiv erzählten Romans äußert sich aber darin, daß er eine wenig geachtete Randfigur der Gesellschaft für wichtig genug hält, um über sie einen Roman zu schreiben. Das heißt, er nimmt sie so ernst wie den Präsidenten, den Bankier, den Chefarzt oder den Zeitungsherausgeber, andere Helden seiner Romane. Es ist nämlich Simenons Überzeugung: „Das einzige, was das Leben mich gelehrt hat und was es auch so viele andere gelehrt hat, ist, daß der Mensch viel mehr wert ist, als er von den anderen und von sich hält.“ (Als ich alt war. Zürich 1977, 377).

Übrigens ist es das Kennzeichen des Realismus in der literarischen Moderne, daß „alltäglich-wirkliche Vorgänge aus einer niederen sozialen Schicht“ wirklich ernst genommen werden und die alltäglichen Vorgänge innerhalb einer bestimmten zeitgenössischen Epoche deutlich situiert sind (Erich Auerbach, Mimesis. Bern 1971, 452). Für diese moderne Art der Dichtung ist Der Neger ein anschauliches Beispiel.

J.Q. — 5. Feb. 2023

© J. Quack


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