Josef Quack

Vorbemerkung
zu "Leidenschaft im Werk Simenons"





Als einst in Florenz die Pest ausbrach, zog sich eine Gruppe von sieben jungen Frauen und drei Männern auf ein Landgut zurück und vertrieb sich die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten, wie man in Bocaccios Decameron nachlesen kann. Ich habe zwar kein Landgut, wohin ich mich während der Corona-Epidemie hätte zurückziehen können, doch hatte ich viel Zeit und die habe ich benutzt, um Simenon zu lesen. Zum Glück hatte ich einige Dutzend Romane auf Lager, die ich noch nicht kannte.

Ich habe sie gelesen und nach alter Gewohnheit auch besprochen, weil man Erlebnisse besser behält, wenn man sie sprachlich formuliert und zudem noch aufschreibt. Die vielfach bewegenden, gelegentlich auch beunruhigenden Leseerlebnisse, die mir die Romane Simenons beschert hatten, wollte ich auf jeden Fall festhalten. Ich wollte mir Rechenschaft geben, was ich in den etlichen fünfzig hier besprochenen Romanen Simenons erfahren habe.

Über die Aufgabe des Rezensenten aber schreibt Lessing in den Briefen, die neueste Literatur betreffend (Nr. 105): „Ich habe immer geglaubt, es sei die Pflicht des Kriticus, sooft er ein Werk zu beurteilen vornimmt, sich nur auf dieses Werk allein einzuschränken; an keinen Verfasser dabei zu denken; sich unbekümmert zu lassen, ob der Verfasser noch andere Bücher, ob er noch schlechtere oder noch bessere geschrieben habe; uns nur aufrichtig zu sagen, was für ei­nen Begriff man sich aus diesem gegenwärtigen allein mit Grund von ihm machen könne.“

Ich habe mich insofern an Lessings Anweisung gehalten, als ich jeden Roman zunächst als eigenständiges Werk beurteilt habe, das eine eigene Struktur hat und ein besonderes Thema behandelt. Dieses Verfahren entspricht der literaturtheoretischen Überzeugung, daß das einzelne Werk, der einzelne Roman, das einzelne Drama, das einzelne Gedicht die grundlegende Einheit der Literatur ist. Alle unsere Aussagen über einen Autor, über eine literarische Gattung, eine literarische Bewegung oder Epoche gehen letztlich auf die Kenntnis und das Verständnis einzelner Werke zurück, und die Güte jeder Literaturkritik läßt sich danach bemessen, ob sie auf dem rechten Verständnis einzelner Werke beruht.

Erst nach der Analyse des einzelnen Romans als für sich bestehendes Kunstwerk habe ich ihn gelegentlich mit anderen Romanen verglichen. Denn Simenon zeichnet sich dadurch aus, daß er, was bei Malern selbstverständlich ist, die gleiche Idee oder das gleiche Motiv in verschiedenen Varianten darstellt, um ihren künstlerischen Reichtum auszuschöpfen. Die gedankliche Fülle des Themas ermöglicht diese Methode des Schreibens, sie ist übrigens zwar nicht der einzige Grund für die unvergleichliche Produktivität Simenons, aber doch eine wichtige sachliche oder objektive Voraussetzung für den gewaltigen Umfang seines Werkes.

Daß ich jeden Roman zunächst für sich interpretiert und beurteilt habe, hatte zur Folge, daß Wiederholungen unvermeidlich waren. Sie waren es auch deshalb, weil ich die Romane nicht nach der Ordnung ihrer Entstehung gelesen und besprochen habe, sondern nach meinem Interesse am jeweiligen Thema.

So habe ich die Besprechungen zwar chronologisch nach dem Jahr der Entstehung der Romane angeordnet, und selbstverständlich hat es einen besonderen Reiz, beim Lesen der Chronologie zu folgen und auf diese Weise die gedankliche und formale Entwicklung des Romanciers zu beobachten. Doch läßt sich diese Sammlung auch wie ein Handbuch benutzen, wo man diese oder jene Rezension liest, weil einen gerade ein bestimmtes Thema interessiert und man wissen möchte, wie ein anderer Leser die Sache aufgefaßt hat.

Bei diesen Romanen läßt sich eine ähnliche Entwicklungen beobachten wie bei den Maigrets. Die frühen Romane sind abenteuerlicher angelegt, ihr Akzent liegt auf der verwickelten Handlung, während in den späteren Werken die Themen und Ideen durchweg mit größerer Intensität behandelt und dargestellt werden.

Ich habe die Fabel der Romane jeweils kurz, aber so genau wie nötig nacherzählt, um wenigstens eine Ahnung zu vermitteln von der Vielfalt und dem Reichtum menschlicher Schicksale in Simenons Universum. In seinem Werk hat der Inhalt den Primat, die Form ist ihm angepaßt und untergeordnet.

Wenn man Form und Thema betrachtet, kann man bei Simenons Romanen drei Kategorien unterscheiden: Werke, die nur skizzenhaft ausgeführt sind, weil der Autor glaubte, damit genug über das Thema gesagt zu haben, und Werke, die ganz durchgestaltet und durchgearbeitet sind, Werke mit vollkommener Form, und drittens formvollendete Werke mit einem beeindruckenden, originell dargestellten Thema.

Hierzu zählen die berühmtesten Romane des Autors, die ich in dem Band Über Simenons traurige Geschichten besprochen habe: Die Glocken von Bicêtre, Der Präsident, Der kleine Heilige, Der kleine Mann von Archangelsk, Der Sohn. Das heißt aber nicht, daß in dem vorliegenden Band keine weiteren Meisterwerke Simenons entdeckt und behandelt würden. Im Gegenteil, mit fortschreitender Lektüre habe ich Simenons Erzählkunst und Denkungsart doch ein wenig besser kennengelernt und unter den hier besprochenen Romanen auch ein gutes Dutzend gefunden, die in die oberste Kategorie literarischer Schöpfungen gehören. Ihnen galt meine höchste Bewunderung, während ich den übrigen Romanen doch manche Stunde gepflegter Unterhaltung verdanke.

Genannt seien wenigstens die folgenden Titel: Die Unbekannten im Haus, mit der klügsten Männerfigur Simenons; Die Marie vom Hafen, Simenons ausgeprägtestes Frauenbild; Das Haus am Kanal, der erste schwarze Roman des Autors; Die Witwe Couderc, das exemplarische Profil eines Mörders, der Gegenentwurf zu Camus’ Fremden; Die Verlobungen von M. Hire, der Konflikt zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, sozusagen klassisch dargestellt; Bei Krulls, eine Geschichte über Fremdenhaß; Der Reisende von Allerheiligen, ein mustergültiger Gesellschaftsroman; Der Bürgermeister von Furnes, signifikant für Simenons Schicksalsthema; Das Schicksal der Malous, der Roman mit dem größten rhetorischen Schwung; Die vier Tage des armen Mannes, ein Reflexionsroman über Menschenwürde und Willensfreiheit; Die grünen Fensterläden, die singuläre Darstellung eines verlöschenden Bewußtseins; Der große Bob, der Simenons Lebensweisheit verkörpert; Es gibt noch Haselnußsträucher, ein Spätwerk, das aber den tollsten Einfall des Autors enthält.

Im Nachwort komme ich auf die erstaunliche These der philosophischen Anthropologe zu sprechen, daß es das Privileg der Dichtung ist, zu erhellen und einsichtig darzustellen, was Leidenschaften eigentlich sind, während Philosophie und Psychologie kaum mehr als das Faktum der Leidenschaft feststellen können. Anders gesagt, was Leidenschaft eigentlich ist, erfahren wir anschaulich vor allem im Drama und im Roman.

Hier wären vor allem zu nennen Drei Zimmer in Manhattan (1946), nach dem Zeugnis des Autors sein erster Roman über die erotische Leidenschaft und ihr initiales Motiv; dann der Brief an meinen Richter (1946), die Geschichte eines paradoxen Verhaltens; Im Falle eines Unfalls (1955), das Tagebuch einer Leidenschaft; Das blaue Zimmer (1964), die intensivste Erzählung einer Passion, und schließlich Der reiche Mann (1970), die erzählerische Analyse einer erotischen Obsession.

Leider konnte ich einige Romane nur auf deutsch bekommen. In diesem Fall konnte ich den Stil des Textes natürlich nicht beurteilen und auch nicht nachprüfen, ob die Romane genau übersetzt sind. Doch wollte ich wegen der besonderen Themen auf die Lektüre dieser Werke nicht verzichten.

J.Q. — 3.Sept. 2023

© J.Quack


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