Josef Quack

Geheimnis eines Lebens
"Die Bilanz von Malétras"




Wenn ein Mensch dahin ist, nimmt er ein Geheimnis mit sich: wie es ihm, gerade ihm – im geistigen Sinn zu leben möglich gewesen ist.

H. v. Hofmannsthal

Le bilan Malétras (1948; Paris 2014), während des Krieges geschrieben, aber erst veröffentlicht, als Simenon längst in Amerika war, ist ein wenig beachtetes Werk des Autors, und doch weist es einige Aspekte auf, die unsere Aufmerksamkeit durchaus verdienen.

Im ersten Kapitel heißt es von dem ungewöhnlich menschlichen Verhalten Malétras’, 60 Jahre alt, einer der reichsten und angesehensten Bürger Le Havres, daß er vielleicht Sorgen wegen seiner Gesundheit habe. „Die große Katastrophe“ sei für ihn vielleicht das sorgenvolle Gesicht des Arztes, der bei ihm ein schwaches Herz festgestellt habe: „Es kommt vor, daß Menschen, seitdem sie sich verdammt wissen, sehr zart mit jedem werden, selbst mit den Tieren, selbst mit den Dingen“ (S.11). Dies als Erklärung, warum Malétras den Kellner als Menschen, als seinesgleichen behandelt hat. Die ärztliche Diagnose ist aber eine Anspielung auf ein Erlebnis Simenons, dem ein Radiologe während des Krieges erklärt hatte: „Ich gebe Ihnen noch zwei Jahre zu leben, unter der Bedingung, daß Sie meine Vorschriften befolgen“. (Simenon, Intime Memoiren 1982, 112)

Die Diagnose war falsch, Simenon aber nahm sie zunächst bitter ernst und beschloß, für seinen kleinen Sohn den Stammbaum der Familie aufzuschreiben. Der Held des Romans aber erleidet in der Folge tatsächlich einen schweren Herzanfall, der ihn veranlaßt, über sein Leben und dessen Sinn angestrengt nachzudenken. So haben wir hier den seltenen Fall, daß eine Bemerkung des Romans erst ganz verständlich wird, wenn man erkennt, daß sie eine versteckte autobiographische Anspielung ist.

Im übrigen enthält der Roman manches Motiv und manchen Gedanken, die wir aus anderen Romanen kennen. Hermine, die Frau von Malétras, hat die gleiche steife Würde wie die Ehefrau in dem Brief an meinen Richter, sie ist eine Generalswitwe, während jene Frau die Tochter eines Generals ist. Malétras selbst gleicht in Verhalten und Einstellung dem Bürgermeister von Furnes. Der Gedanke, daß ein Mörder sich selbst aus der menschlichen Gesellschaft ausschließe, ist eine für Simenons ganzes Werk höchst signifikante Überzeugung (S.52).

Vor allem aber erinnert die radikale Selbstbeobachtung und Selbsterforschung der Hauptfigur während eines Herzanfalls und beim späteren Erwachen an die genaue Beschreibung, wie ein Mensch aus der Bewußtlosigkeit allmählich zu sich kommt und danach schonungslos sein Leben überprüft, in den Glocken von Bicêtre (cf. J.Q., Über Simenons traurige Geschichten). Ich bin überzeugt, daß Simenon dieses Meisterwerk nicht hätte schreiben können, ohne die brillante Vorstudie in Le bilan de Malétras. Doch erschöpft sich die Bedeutung dieses Romans keineswegs in dieser Funktion. Er zeigt uns vielmehr einen ungewöhnlichen Mann, der trotz seiner Seltenheit wesentliche Züge der Menschlichkeit verkörpert.

Jules Malétras, ehemals Besitzer der Docks von Le Havre, hat nach dem Tod seiner Frau vor fünf Jahren Hermine aus Vernunftgründen geheiratet, eine Generalswitwe. Sie haben geheiratet, weil sie alt waren (S.125). Er hat seine feste Gewohnheiten. Vormittags erledigt er in zwei Stunden die Buchhaltung eines Fischhändlers, der dazu nicht fähig ist. Nachmittags geht er ins Café Cintra und schaut für eine Zigarrenlänge dem Bridgespiel einiger Honoratioren der Stadt zu. Danach sucht er seine junge Geliebte auf, Lulu, eine ehemalige Kellnerin. Eines Tages verbringt er den ganzen Abend mit Lulu, begegnet dabei seinem Schwiegersohn, der ein flottes Auto fährt. Lulu besteht auf einer Spazierfahrt mit ihm, was die Eifersucht Malétras erweckt. Er erdrosselt sie in ihrer Wohnung. Er will die Polizei rufen, doch Joseph, ein weiterer Liebhaber Lulus, ein Schiffssteward auf Krankenurlaub, ist zufällig im Hause und verspricht, das Verbrechen zu vertuschen. Er macht mit falschen Angaben das plötzliche Verschwinden Lulus plausibel und beseitigt ihre Leiche, weil er damit rechnet, von Malétras belohnt zu werden. Er finanziert dann auch tatsächlich Josephs endgültige Abreise aus Le Havre. Malétras aber ist es egal, ob er ins Gefängnis kommt.

Eines Nachts nach dem Besuch einer Kaschemme, die ihn an die Gerüche seiner Kindheit erinnert, erleidet er zuhause einen Herzanfall, dessen Krise drei Stunden andauert, von zwei Ärzten beobachtet, von Malétras aber mit klarstem Bewußtsein erlebt. Nach der Genesung scheint Malétras ein anderer Mensch zu sein, der jener gleichmütigen, unbeeinflußbaren (impassible) Person in einem Roman ähnelt, auf den hier angespielt wird (S.196). Man sieht ihn vor einem Beichtstuhl und er besucht regelmäßig die Frühmesse. Als Hermine sagt, er werde am Ende glauben, verneint er es (S.219). Eine merkwürdige Antwort, die meines Erachtens nicht wörtlich zu nehmen ist, sondern besagt, daß Malétras über sein Inneres keine Auskunft gibt. Hermine ist nach fünf Jahren gestorben, er hat sie um sieben Jahre überlebt.

Der Herzanfall wird in einem luziden Absatz eindringlich beschrieben, ein Muster für Simenons Erzählkunst: „Die Angst kam verstärkt wieder. Er fühlte sie kommen. Sie wuchs, wuchs, er hatte den Eindruck, daß sie ihn hob, daß seine Füße nicht mehr die Erde berührten, daß alles verschwinden werde, er öffnete den Mund, um aus Furcht zu schreien, oder vielmehr, nein, er wollte den Mund öffnen, aber er wagte es nicht, er wollte von seiner Energie nichts verlieren und, wie eine Rakete, die ihren Höhepunkt erreicht, erblühte es in ihm, der Schmerz zerkrümelte in tausend kleine Schmerzen, die nach und nach abschmolzen und ihm einen Augenblick der Ruhe ließen.“ (S.171)

Zweifellos eine authentische Krankheitsbeschreibung, die noch durch die Beobachtung verstärkt wird, daß der Kranke sitzen bleibt und sich nicht hinlegen kann, weil „es dann zu Ende“ wäre (S.167), auch dies eine Erfahrungstatsache, die bestätigen kann, wer es selbst erlebt hat. Simenon dürfte sich über die Krankheit genau informiert haben. Da jene Diagnose des Radiologen falsch war, wird er es wohl selbst kaum erlebt haben.

Die schonungslose Selbsterforschung, symbolisiert durch Malétras’ häufigen Blick in den Spiegel, schlägt sich in außerordentlich bündigen, präzisen Resümees seines Verhaltens nieder. Seine Mutter hatte ihm vorausgesagt, daß er sein ganzes Leben lang unglücklich sein werde: „Hatte sie vorausgesehen, konnte sie voraussehen, daß er nach Jahren und Jahren des Kampfes, wenn er reich sein würde, von allen gekannt, Mitglied der Handelskammer, ausgezeichnet, mit einer ganz neuen Villa in dem vornehmsten Viertel, einer edel geborenen Frau, am Abend durch die Sträßchen schleichen würde, um eine Stunde mit einem Mädchen aus dem Volke in einem Zimmer zu verbringen, das nach Armut riecht?“ (S.101)

Dem geht das in Simenons Werk ungewöhnliche, weil tiefenpsychologische Bekenntnis voraus, „daß er niemals eine Frau geliebt habe, weil er keine gefunden habe, die ihr glich“, d.h. seiner Mutter (S.101). Dies gilt auch für die Beziehung zu Lulu, die er aus Eifersucht getötet hat, obwohl er sie nicht liebte (S.88). Dennoch war dieses Verhältnis für ihn lebenswichtig, wie er in einem allerdings nur stummen Monolog seinem Kollegen Gancel zu erklären versucht: „Stell dir vor, daß ich alle Abende zu einem Mädchen zu laufen begann, das nicht mal hübsch war, ein sich schlecht benehmendes kleines Weibchen ohne Intelligenz, und das mir so notwendig für mein Leben geworden war, das bis zu dem Punkt mein Leben geworden war, daß ich sie getötet habe.“ (S.201)

Das tiefere, existentielle Motiv für das Verhältnis mit Lulu, das doch eine menschliche Angelegenheit ist, dürfte in dem Bewußtsein seiner unausweichlichen Einsamkeit zu suchen sein. Sie findet wiederum in einer grundsätzlichen Überlegung während jener lebensgefährlichen Krise ihren Ausdruck: „Malétras war ganz allein. Gewiß ist es oft vorgekommen, daß er das Gefühl der Einsamkeit hatte. Dieses Mal war es anders. Er erfaßte klar die vollständige Einsamkeit, er gab sich Rechenschaft, ein für allemal, daß der Mensch, was immer er tue, einsam im Leben und im Tod ist.“ (S.173)

Dieser existentiellen Befindlichkeit entspricht Malétras’ grundsätzliches Benehmen gegenüber der Mitwelt, er ist hart und mächtig und handelt nach der Maxime, daß „kostenlose Dienste die teuersten seien“ (S.75; 107).

Zu erwähnen wäre noch der religiöse Aspekt dieses Romans. Er wird durch eine unerwartete, höchst fremde oder scheinbar unpassende Anspielung im ersten Kapitel eingeführt. Malétras’ gewohntes Verhalten im Café wird mit dem Verhalten eines Christen verglichen, „der nicht mehr den Glauben hat, aber fortfährt, die Sakramente zu empfangen“ (S.14). Er selbst vergleicht Gancel mit Job, weil er eine bettlägrige Frau hat, eine häßliche behinderte Tochter und einen Sohn, der eine Dirne heiraten will, aber dennoch fromm alles ergeben erträgt (S.115). Als er ihn aufsucht, wird er wie ein Teufel behandelt (S.141). Gancel besucht ihn während seiner Krankheit, doch ärgert sich Malétras über den Gleichmut (l’impassibilité) des Mannes, dessen Geheimnis er nicht entdecken kann (S.202).

Der Clou des Romans aber besteht darin, daß Malétras seiner Mitwelt am Ende verwandelt und unverständlich vorkommt. Joseph ist erstaunt über „die derart vollständige Ausgeglichenheit“ von Malétras (la sérénité si totale) (S.209). Die ersten zehn Kapitel des Romans werden aus seiner Innenperspektive mit häufiger erlebter Rede erzählt. Im letzten Kapitel aber wird er nur noch von außen geschildert. Seine innere Einstellung, das endgültige Fazit seines Lebens, von dem der Titel spricht, bleibt sein Geheimnis. — Le bilan Malétras läßt dem Leser einiges zu denken übrig.

J.Q. — 28. Feb. 2023

© J.Quack


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