Josef Quack

Zu Kissingers "Staatskunst"




Über die Regierungsform sollen die Narren streiten; wahre Exzellenz zeigt sich in der besten Verwaltung.

A. Pope

Ein Jahr vor seinem hundertsten Geburtstag legte Henry Kissinger eine Art Summe seiner reichen politischen Erfahrung vor, die Staatskunst (2022), exemplifiziert an sechs großen Politikern, die er persönlich aus der Nachkriegszeit kannte: Adenauer, de Gaulle, Nixon, Sadat, Lee Kuan Yew und Margret Thatcher. Im Untertitel nennt er sein Buch „Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert“. Damit drückt er seine Überzeugung aus, daß man aus der Geschichte für die Zukunft lernen könne, und zwar durch Beispiele.

Er teilt in dieser Hinsicht die Auffassung Konrad Adenauers, der meinte, daß Historiker nicht nur das Vergangene wahrheitsgetreu beschreiben, sondern auch auf die zu erwartenden Entwicklungen hinweisen können sollten. Er wollte mit dieser These den singulären Wert politischer Erfahrungen betonen: „Erfahrung kann eine Führerin des Denkens und des Handelns sein, die durch nichts zu ersetzen ist, auch nicht durch angeborenen Intellekt. Das gilt insbesondere für das Gebiet der Politik.“ (Erinnerungen 1945-1953. 1965, 13) Es versteht sich, daß beide Politiker auch pro domo sprechen, wenn sie im hohen und höchsten Alter den Wert der Geschichtserfahrung betonen.

Kissinger folgert aus dieser Überzeugung, daß ein Staatsmann historisch gebildet sein sollte, und zweitens liegt seinem Werk die These zugrunde, daß jene historische Schule nicht recht haben kann, die behauptet, daß der menschliche Faktor, d.h. Entscheidungen der Politiker, in der Geschichte keine ausschlaggebende Rolle spielten. Als nicht zu leugnende Gegenbeispiele nennt er Cäsar, Mohammed, Luther, F.D. Roosevelt und Churchill. Plausibler wäre gewesen, wenn er den Gegenspieler genannt hätte, den Roosevelt und Churchill bekämpften, nämlich Hitler, ohne den die Weltgeschichte im 20. Jahrhundert anders verlaufen wäre, wie Sebastian Haffner in den oft zitierten Worten feststellt, daß es ohne Hitler höchstwahrscheinlich keinen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte: „Die Welt von heute, ob es uns gefällt oder nicht, ist das Werk Hitlers. Ohne Hitler keine Teilung Deutschlands und Europas; ohne Hitler kein Israel; ohne Hitler keine Entkolonisierung, mindestens keine so rasche, keine asiatische, arabische und schwarzafrikanische Emanzipation und keine Deklassierung Europas. Und zwar, genauer gesagt: nichts von alledem ohne die Fehler Hitlers. Denn gewollt hat er das alles keineswegs.“ (Anmerkungen zu Hitler 2003, 114).

Haffner weist auch darauf hin, daß Hitler deshalb jede historische Größe abgeht, weil er kein Staatsmann war: das Dritte Reich hatte am Ende keine verfassungsrechtliche Organisation mehr (l.c. 53). Von den großen Politikern, die Kissinger vorstellt, zeichnen sich aber drei gerade durch ihr staatsmännisches Wirken aus. Adenauer, de Gaulle und Lee Kuan Yew waren in ihren Ländern am Aufbau oder der Reform verfassungsrechtlicher Strukturen maßgeblich beteiligt.

Adenauer wirkte als Präsident des Parlamentarischen Rates entscheidend an der Konzeption des Grundgesetzes mit. De Gaulle hat zweimal Frankreich verfassungsrechtlich organisiert, nach dem Sieg 1944 und bei der Gründung der 5. Republik, die Frankreich innenpolitische Stabilität bescherte und eine wirksame, wahrhaft souveräne Außenpolitik erst ermöglichte. Lee Kuan Yew bildete aus einem Kolonialstützpunkt einen funktionierenden Staat und aus einer multi-ethnischen Gesellschaft eine eigenständige Nation, wohl die erstaunlichste Leistung der drei Staatsmänner, die hier genannt werden. Sie haben das politische Geschehen unbestreitbar kräftig mitbestimmt, mit Folgen, die bis heute nachwirken.

Adenauer

Die Politik Adenauers beschreibt Kissinger unter dem auf den ersten Blick seltsamen Titel „Die Strategie der Demut“. Sie „bestand aus vier Elementen: Anerkennung der Folgen der Niederlage, Zurückgewinnung des Vertrauens der Sieger, Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und Bildung eines europäischen Staatenbundes, der die historischen Spaltungen Europas überwinden würde“ (Kissinger, Staatskunst 2022, 39). Kissinger spricht deshalb von einer Politik der Demut, weil Adenauer sich immer bewußt war, daß Deutschland den Krieg verloren hatte und aus einer Position der Schwäche handeln mußte. Im Kontrast zur objektiven Lage Deutschlands besaß er aber eine große politische Autorität. Als politischer Akteur „verströmte er Vitalität und Selbstbewußtsein“, was die Hohen Kommissare der Siegermächte bei den Verhandlungen mit ihm bald zu spüren bekamen (S.34). Sein Führungsstil hatte Erfolg, zehn Jahr nach der totalen Niederlage erlangte die Bundesrepublik ihre Souveränität.

Adenauers politische Autorität beruhte auf seinem Charakter. Heute sucht man in Deutschland, im ganzen Westen, vergebens Akteure, denen man wie ihm oder de Gaulle so etwas wie politische Autorität zuschreiben könnte.

Zu dem heikelsten, seinerzeit umstrittensten und bis heute oft mißverstanden Punkt seiner Politik, der Vereinigung Deutschlands, bemerkt Kissinger richtig, Adenauer habe die Teilung des Landes als vorübergehend behandelt: „Er glaubte, daß die Einheit schließlich durch den Zerfall des sowjetischen Satellitenorbits, das überlegene Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik, die Stärke und den Zusammenhalt des Atlantischen Bündnisses und Spannungen innerhalb des Warschauer Pakts zustande kommen werde. Er ging also von einem Zusammenbruch des ostdeutschen Satellitenstaates aus – etwa so, wie es tatsächlich im Jahr 1989 geschah.“ (S.71)

Adenauer hat seine Ansicht öfter klar ausgesprochen, so unmißverständlich in dem folgenden Statement: „Wenn die Sowjets eines Tages begreifen, daß sie in Europa keinen Fußbreit weiterkommen, werden sie zum Umdenken gezwungen. Dann verliert auch der Besitz eines Teiles Deutschlands für sie an Wert. In diesem Sinne war und ist die Bundesrepublik gegenüber dem Westen ein Beitrag zur Wiedervereinigung, denn wir haben dadurch in Europa eine Festigung erreicht, die den Sowjets allmählich den Mut nehmen muß. Das kann schneller geschehen, als wir uns träumen lassen. In der Geschichte gibt es immer Überraschungen.“ (Bulletin 30.4. 1960)

Übrigens teilte Winston Churchill diese Meinung, wie er in einem Gespräch vom 4. Dezember 1951 zu Adenauer sagte: „Wenn der Westen stärker ist, wird die Sowjetunion vielleicht zurückweichen und eine Vereinigung Deutschlands zulassen“ (K.Adenauer, Erinnerungen 1945-1953. Stuttgart 1965, 508). Dagegen konnte ein so kluger Historiker wie Golo Mann, ebenso wie viele andere seiner Zunftgenossen und sogar ein so hellsichtiger politischer Denker wie Egon Bahr, den Gedankengang Adenauers nicht verstehen. Mann behauptet nämlich, daß dessen Bindung an Westeuropa-Amerika „die im Munde geführte ‚Wiedervereinigung‘ buchstäblich unmöglich machte“ (Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt 1966, 995).

In diese Rubrik gehört auch die sogenannte „Friedensnote“ Stalins vom März 1952 an die drei Westmächte, in der er die Einigung Deutschlands gegen die Neutralisierung des Landes anbot. Dieses Angebot sollte offensichtlich Adenauers Politik der Westbindung rückgängig machen. Die Opposition hat ihm damals vorgeworfen, weil er Stalins Plan strikt abgelehnt habe, habe er eine Chance für die Wiedervereinigung Deutschlands vergeben. Egon Bahr wiederholte diesen Vorwurf später: „Es bleibt das schwere Versäumnis, nicht einmal sondiert oder erprobt zu haben, ob ein solcher Weg hätte gangbar gemacht werden können“ (Zu meiner Zeit. München 1998, 72). Freilich glaubte Bahr, gestützt auf das Zeugnis Falins und Semjonows, sowjetischer Botschafter in Bonn, Stalin sei es mit jener Friedensnote ernst gewesen. Dagegen kommt Kissinger zu einem anderen Schluß: „Die zeitgenössischen Belege lassen vermuten, daß Stalin dieses Angebot erst machte, nachdem er sich von seinem Außenminister mehrfach hatte versichern lassen, daß es abgelehnt werden würde.“ (Staatskunst S.48)

Adenauer ließ sich durch jene Note jedoch nicht beirren. Er wollte die Bindung Deutschlands an den Westen und die europäische Integration um keinen Preis aufgeben. Außerdem hat er klar erkannt, daß nach der Neutralisierung im Sinne jener Note Deutschland niemals völlig souverän sein, sondern immer internationalen Kontrollen ausgesetzt sein würde – ein schwerwiegendes Argument, das seine Gegner ebenso wenig erkannt haben wie viele Historiker und Publizisten. Kissinger erwähnt das Argument in seinem Buch über das „Wesen der Außenpolitik“, in Die Vernunft der Nationen (1994, 544).

Ein wesentlicher Bestandteil jener „Strategie der Demut“ war der Versuch, das materielle Unrecht, das den Juden durch Hitler angetan worden war, nach Möglichkeit wieder gutzumachen, was denn auch, von Adenauer in die Wege geleitet, über die Jahrzehnte geschehen ist. 1951 verlangte die israelische Regierung von den beiden deutschen Regierungen Reparationen in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar. Von 1953 bis 1965 lieferte die Bundesrepublik an Israel wichtige industrielle Güter in der Höhe von 10 bis 15 Prozent des israelischen Imports, und bis 1995 betrugen die Wiedergutmachungszahlungen an individuelle Opfer 124 Milliarden D-Mark (Staatskunst S.54).

Kissinger erwähnt auch eine leichte Spannung, die zwischen Levi Eschkol und Adenauer bei dessen Besuch in Israel 1966 aufkam. Freilich nennt der Autor nicht den eigentlichen Grund der Verstimmung, der wiederum Adenauers ausgeprägtes Selbstbewußtsein und seine unbestreitbare persönliche Autorität offenbarte. Nach einem Bericht von Guido Goldmann, dem Sohn Nahum Goldmanns, des Präsidenten des Jüdischen Weltrats, hielt Eschkol „es in seiner Tischrede für notwendig zu betonen, daß Adenauer große Verdienste im Zusammenhang oder bei den Versuchen erworben habe, Deutschland in die Familie der zivilisierten Völker zurückzuführen. Der Ur-Kanzler war darüber empört. Er stellte fest, daß seines Bleibens nicht sein könne, wenn man noch immer daran zweifle, daß die Deutschen zur Familie der zivilisierten Völker gehörten. … Adenauer bestand auf einer Korrektur.“ Man hat dann für die Presse einen Kompromiß formuliert (Klaus Harpprecht, Im Kanzleramt. 2001, 128). Ich kenne keinen deutschen Politiker, der Israel gegenüber so selbstbewußt aufgetreten wäre wie Adenauer.

In dem knappen, bewegenden Bericht über seine Reise nach Israel im Mai 1966 erwähnt Adenauer weder Eschkol noch jene Szene der Unstimmigkeit (Erinnerungen 1953-1955, 160ff.).

Kissinger hatte Adenauer mehrmals zu politischen Gesprächen getroffen. Schon im Oktober 1957 erklärte Adenauer, daß es zwangsläufig zu einem Bruch zwischen China und Rußland kommen werde (Staatskunst S.61). Bei einem Treffen mit Kennedy 1961 hat er diese Prognose wiederholt, „mit der Bemerkung, daß ich ihm in dieser Frage zustimmte. Kurz darauf erreichte mich eine Botschaft von Kennedy des Inhalts, daß er dankbar wäre, wenn ich meine geopolitischen Einsichten nicht nur dem deutschen Kanzler, sondern auch ihm mitteilen würde“ (Die Vernunft der Nationen S. 640). In der Staatskunst hat Kissinger übrigens die Mahnung Kennedys an ihn weggelassen.

Adenauers Einschätzung hat sich als richtig erwiesen. Kennedy und sein Nachfolger haben sie aber leider nicht berücksichtigt, sondern in Vietnam auch deshalb militärisch eingegriffen, weil sie annahmen, die kommunistischen Staaten bildeten einen monolithischen Block.

Was aber Adenauers Urteil über sein eigenes Volk angeht, so findet sich darüber das erstaunliche Bekenntnis: „Ich habe mich in der nationalsozialistischen Zeit oft geschämt, ein Deutscher zu sein, in tiefster Seele geschämt; ich hatte … von den Schandtaten, die von Deutschen an Deutschen begangen wurden, und von den Verbrechen, die an der Menschheit geplant waren, erfahren. Aber jetzt, nach dem Zusammenbruch, als ich sah, wie das deutsche Volk sein furchtbares Geschick … in völliger Machtlosigkeit, verachtet von allen Völkern der Erde, wie das deutsche Volk dieses Schicksal trug, mit geduldiger Stärke, die stärker schien als alle Not, jetzt war ich wieder stolz darauf, ein Deutscher zu sein.“ (Erinnerungen 1945-1953, S.43).

Erstaunlich ist nun, daß Heinrich Böll, einer der schärfsten Kritiker Adenauers, ähnliche Worte findet, um sein Verhältnis zu den Landsleuten zu beschreiben: „Für einen Deutschen ist es sehr schwierig, sich selbst als solchen zu akzeptieren. Aber man kommt in einen Zwang und empfindet das Deutschsein nach 12 Jahren Naziherrschaft doch schon als Fluch. Nur gerät jeder in eine Geschichte, die er selbst nicht bestimmen kann. Aber dann kam auch für mich eine merkwürdige dialektische Deutschheit hinzu. Weil dieses Volk so verachtet wurde, wollte ich auch dazugehören.“ (Interview 21.9.1973 in „Le Monde“. In H. Böll, Interview I, 244)

Bei aller Distanz und aller Kritik hat Böll aber doch Adenauers Leistung widerwillig anerkannt. Seit 1945 sei die Zeit ihm günstig gewesen: „Er hat die Epoche geprägt, und so leben wir alle nicht in unserer, wir leben in seiner Zeit.“ (Essayistische Schriften und Reden 2. S.177).

De Gaulle

Adenauer hat in seiner politischen Karriere gleichsam den gewöhnlichen Weg eingeschlagen. Nach dem Krieg beteiligte er sich an der Gründung einer Volkspartei, er wurde ihr Vorsitzender und sie war die Grundlage seines Einflusses und seiner politischen Macht. Charles de Gaulle dagegen schlug den ungewöhnlichsten Weg ein. Er flog nach der Niederlage Frankreichs nach London und hielt am 17. Juni 1940 im Rundfunk eine Rede, in der er seine Opposition gegen die französische Regierung erklärte und seine Landsleute im Ausland zur Bildung des „freien Frankreichs“ aufrief. Man könnte hier auch von Rebellion sprechen. Er verfügte über keinerlei reale politische Macht, sondern handelte in dem unglaublich stark ausgeprägten Selbstbewußtsein, die Idee Frankreichs zu repräsentieren. Elf Tage später wurde er von Churchill als Führer der „freien Franzosen“ anerkannt.

Er fand dann genügend Anhänger, um eine eigene Armee zu gründen, er konnte, mit List und Entschlossenheit, die Herrschaft in den afrikanischen Kolonien übernehmen, und seine Armee zog als erste in das befreite Paris ein.

Auch in der späteren Zeit, besonders eindringlich bei dem bürgerkriegsähnlichen Streit um die Unabhängigkeit Algeriens im Januar 1960, hat de Gaulle seine Absicht durch den Appell an die Öffentlichkeit, durch charismatische Reden, durchgesetzt. Kissinger spricht mit Recht von einer „Demonstration charismatischer Führungsstärke“ (S.148) und schreibt über de Gaulles Plan, im Krieg das „freie Frankreich“ zu gründen: „Ihm gelang die Schaffung einer politischen Realität durch bloße Willenskraft“ (S.117). Doch wählt er das falsche Wort, wenn er de Gaulle einen „Illusionisten“ nennt (S.94); de Gaulle war vielmehr ein Idealist, der sich über die politischen Realitäten gerade keine Illusionen machte.

Seine politische Leistung gehört zu den erstaunlichsten, fruchtbarsten, fortdauernden politischen Werken seiner Epoche. Kein anderer Politiker dieser Jahre verfügte über eine vergleichbare Autorität und über ein ebenbürtiges Selbstbewußtsein seines Formats. Er blieb Herr über seine Karriere und konnte das Ende seiner politischen Tätigkeit selbst bestimmen, was dem parteipolitisch gebundenen deutschen Kanzler bekanntlich nicht gelungen ist.

Übrigens wurde de Gaulle von Roosevelt niemals als gleichberechtigter Partner der Siegermächte anerkannt, was sicher auch einer der Gründe für seine spätere politische Distanz zur Nato und zu Amerika war.

Nixon

Das Kapitel über Nixon ist eine Zusammenfassung, ein neuerliches Resümee der detaillierten Berichte, die Kissinger in seinen Memoiren gegeben hat. Nixons bleibendes politisches Verdienst besteht in seiner mutigen, energisch durchgeführten, vorausschauenden Außenpolitik, die von Kissinger als dessen Sicherheitsberater und Außenminister vielfach mitgestaltet und praktisch durchgeführt wurde. Freilich hätte Kissinger seine Pläne und Anregungen nicht verwirklichen können, wenn der Präsident sie nicht gebilligt und sich zu eigen gemacht hätte.

Nixons Werk bestand darin, daß er die amerikanischen Truppen aus Vietnam abzog und ein ehrenvolles Abkommen mit Hanoi schloß, das die Nordvietnamesen dann aber nicht einhielten. Er konnte dagegen militärisch nichts unternehmen, weil der isolationistische Kongreß, den pazifistischen Demonstranten folgend, eine derartige Reaktion nicht mehr zuließ. Dies war die eigentliche Schmach Amerikas, daß sie einen Verbündeten seinem Schicksal überließ, während es zwei Jahrzehnte früher Südkoreas Unabhängigkeit verteidigt hatte und bis heute verteidigt.

Zweitens hat Nixon im Nahen Osten die Beziehung zu Ägypten auf Sadats Wunsch aufgenommen und nach dem Yom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 ein Abkommen über die Entflechtung der ägyptischen und israelischen Truppen erreicht, eine notwendige Vorbedingung für den späteren Friedensvertrag zwischen den beiden Ländern.

Nixon hat Moskaus Einfluß im Nahen Osten demonstrativ zurückgedrängt, zugleich aber Verhandlungen mit ihm über die Kontrolle der nuklearen Rüstung geführt, einen Abrüstungsvertrag geschlossen und so im Kalten Krieg die Entspannung zwischen den beiden Supermächten eingeleitet.

Vor allem aber hat er die Beziehung zu China aufgenommen und das riesige Land in das Konzert der Weltpolitik eingeführt.

Schließlich weist Kissinger auf eine bedeutende Leistung Nixons hin, die wenig bekannt ist und selten anerkannt wurde. Im Dezember 1971 kam es nach einem Appell Nixons zu einem Waffenstillstand zwischen Indien und Pakistan im Konflikt um Bangladesch – „ein Wendepunkt im Kalten Krieg“, weil das Waffenstillstandsangebot Indiens auf Nixons Bereitschaft zurückging, „mit militärischen Signalen und diplomatischen Initiativen auf höchster Ebene das strategische Gleichgewicht neu zu justieren und dadurch die Krise zu entschärfen.“ Dieser Konflikt „kann als die erste Krise um die Form der ersten wirklich globalen Ordnung der Weltgeschichte betrachtet werden.“

Die rasche Beilegung dieser Krise „auf eine Weise, die der Weltordnung und humanistischen Werten dienlich ist“, steht in schärfsten Gegensatz zu dem nunmehr zehnjährigen Bürgerkrieg in Syrien und den Unruhen in Libyen, dem Jemen und Sudan (S.274). Der Satz über diese ungelösten Krisen ist natürlich als scharfe Kritik der Unfähigkeit oder Untätigkeit der weltpolitischen Akteure heute zu verstehen.

Lee Kuan Yew

Von den sechs Helden der Staatskunst, die hier vorgestellt und gewürdigt werden, hat Lee Kuan Yew, von 1965 bis 1990 Premierminister des unabhängigen Singapur, die erstaunlichste Leistung erbracht. Sie ist nicht nur wegen seines unerwarteten Erfolgs, sondern auch deshalb erstaunlich, weil sein Handeln sich nicht an den Maßstäben der westlichen Demokratie ausrichtete, sondern nach Ideen der asiatischen Kultur.

Auf der Grundlage einer unbedeutenden Kolonie, die nur über ein Heer von Menschen ohne Arbeit verfügte, gelang ihm: der Aufbau eines Staates, der Aufbau einer Nation und der Aufbau einer Volkswirtschaft. Singapur ist eines der wohlhabendsten Länder der Erde geworden, ökonomisch von internationalem Gewicht. Das ökonomische System wurde Vorbild für die Wirtschaftsreformen Deng Xiaopings in China. Der reiche Stadtstaat dürfte das effektivste, sozial gerechteste Gesundheitssystem der Welt haben. Er wird nicht nach den Regeln einer pluralistischen Demokratie regiert, sondern autoritär, im Sinne konfuzianischer Ideen und Normen.

Dazu Lee Kuan Yew, das asiatische Selbstverständnis betonend: „Der Westen glaubt, daß die Welt seiner historischen Entwicklung folgen muß. Aber Demokratie und individuelle Rechte sind dem Rest der Welt fremd.“ Was Kissinger kommentiert: „Die Universalität des liberalen Anspruchs war für ihn ebenso wenig einleuchtend wie die Vorstellung, daß die Amerikaner eines Tages Konfuzius folgen würden.“ (S.417)

Lee war für seine politische Hellsicht bekannt. Er war frühzeitig überzeugt, daß China sich zu einer Supermacht entwickeln werde. Zu Amerikas Verstrickung in den Vietnam-Krieg meinte er schon 1967: „Die Vereinigten Staaten hätten sämtliche Haltestellen verpaßt, an denen sie hätten aussteigen können; die einzige Möglichkeit bestehe nun darin, bis zur Endhaltestelle weiterzufahren“ (S.400). Als man ihn lobte, daß er die Entwicklung Singapurs nach feministischen Prinzipien vorangetrieben habe, widersprach er: „Er habe die Frauen aus praktischen Gründen in die Erwerbsbevölkerung aufgenommen“. Aus den gleichen Gründen habe er auch talentierte Ausländer als Einwanderer für Singapur gewonnen. (S.396)

Thatcher

Zu Margret Thatcher will ich nur referieren, daß ihre bleibende Leistung in den Wirtschaftsreformen besteht, die sie, unbeirrt von Streiks und anderen Widerständen, in England durchgeführt hat. Außenpolitisch ist die Bilanz ihres Wirkens weniger beeindruckend. Daß sie die Falkland-Inseln von den Argentiniern zurückerobert hat, muß man als militärpolitischen Erfolg verbuchen, obwohl man an dem weltpolitischen Sinn der Aktion zweifeln kann.

Sie legte größten Wert auf die besonderen Beziehungen zu Amerika. Doch wurde sie nicht informiert, als die Reagan-Regierung Grenada besetzte, obwohl es ein Mitglied des Commonwealth war: Amerika folgte den eigenen politischen Interessen, ohne Rücksicht auf die nationale Empfindlichkeit seines engsten Verbündeten.

Schließlich votierte Thatcher gegen die Wiedervereinigung Deutschlands, weil ihr national beengter Horizont sie hinderte, die politische Situation Deutschlands realistisch einzuschätzen. Kissinger spricht diplomatisch von den „Grenzen“ ihrer Staatskunst (S.497). Freilich ist England vor wenigen Jahren ihrer Europa-Skepsis gefolgt.

Lehren

Das Buch schließt mit einer Art Fürstenspiegel für politische Führer unserer Zeit, mit der Beschreibung und Analyse der geistigen und charakterlichen Voraussetzungen, über die Staatsmänner idealerweise verfügen sollten. Man wundert sich, ausgerechnet aus amerikanischem Munde ein Plädoyer für humanistische Bildung zu hören, wo doch die Schulen des Landes seit Jahrzehnten keine klassische Studien mehr anbieten.

Kissinger betont, daß die aristokratische Gesellschaft im 19. Jahrhundert von der meritokratischen Gesellschaft abgelöst wurde, einer Gesellschaft, in der nicht die Herkunft, sondern die persönliche Leistung einen Menschen zum Staatsmann qualifizierte, und erklärt zur Gegenwart: „Damit die Meritokratie wiederbelebt werden kann, müßte humanistische Bildung ihre frühere Bedeutung wiedererlangen und auch Fächer wie Philosophie, Politik, Humangeographie, moderne Sprachen, Geschichte, Wirtschaftstheorie, Literatur und vielleicht sogar das Studium der klassischen Antike beinhalten, somit eben jenen Wissensfundus aufbauen, der früher zur Grundausbildung des Staatsmannes zählte.“ (S.535)

Er rühmt die Helden seines Buches wegen ihrer hervorstechenden Eigenschaften: „Adenauer für seine Integrität und Beharrlichkeit; de Gaulle für seine Entschlossenheit und historische Vision; Nixon für seine Einsicht in die internationalen Verflechtungen und seine Entscheidungsstärke; Sadat für die geistige Noblesse, die ihn Frieden stiften ließ; Lee für seine Vorstellungskraft bei der Gründung einer multiethnischen Gesellschaft; Thatcher für ihre prinzipientreue Führung und Zähigkeit“ (S.535f.).

Zu den Aufgaben der Politik der Zukunft zählt er die Pflicht, die Wirkungsmacht revolutionärer Techniken, Künstliche Intelligenz in Waffensystemen und Cyberwaffen, zu erforschen und nach Möglichkeit einzudämmen oder zu beherrschen.

Die Weltpolitik aber wird nach seiner Ansicht in Zukunft von drei Großmächten wesentlich bestimmt werden: durch ein geschwächtes Rußland, vor allem aber durch zwei machtpolitisch ebenbürtige Akteure: die Vereinigten Staaten und China, eine historisch völlig neue Konstellation der Macht: „Heute zwingen Chinas wachsende ökonomische und strategische Kapazitäten die Vereinigten Staaten zum ersten Mal in ihrer Geschichte dazu, sich mit einem geopolitischen Konkurrenten zu messen, der über vergleichbare Ressourcen verfügt – eine Aufgabe, die für Washington ebenso ungewohnt ist wie für Peking, das in historischer Sicht andere Nationen stets als der chinesischen Kultur und Macht tributpflichtig behandelt hat.“ (S.539)

Den gegenwärtigen Ukraine-Konflikt führt er auf das Versäumnis des Westens und Rußlands zurück, in Verhandlungen sich über ihre veränderte geopolitische Lage klar zu werden und sich über ihre Haltung zu einigen. Zur Debatte stand ein „neues Ordnungsmuster“, das geeignet wäre, „nicht nur die Ängste der Europäer vor einer Vorherrschaft Rußlands, sondern auch die historische Besorgnis Rußlands im Hinblick auf Offensiven aus dem Westen zu beruhigen. … Die Invasion der Ukraine im Februar 2022, dieser ungeheuerliche Verstoß gegen internationales Recht, ist daher großenteils der Auswuchs eines gescheiterten strategischen oder nur halbherzig geführten Dialogs.“ (S.540)

Weniger diplomatisch ausgedrückt, behauptet Kissinger, daß auch der Westen eine gewisse Schuld an der gegenwärtigen Krise hat. Die implizite Folgerung aber lautet: irgendwann wird der Krieg beendet werden und wieder ein Dialog mit Rußland geführt werden müssen.

Zur Beschreibung der neuartigen politischen und ökonomischen Machtverhältnisse wäre zu sagen, daß Europa und die USA weder gegen China noch gegen Rußland die richtige politische Strategie gefunden zu haben scheinen. Bisher ist dem Westen nur eine restriktive Handelspolitik eingefallen, die zumindest den Europäern teuer zu stehen kommt. Die Aufgabe ist so groß, daß man im Sinne Kissingers das klassische Zitat anführen kann: "Videant consules, ne quid detrimenti res publica capiat" (Mögen die Konsuln sehen, daß der Staat keinen Schaden nehme).

J.Q. — 10. März 2023

© J.Quack




Josef Quack

Adenauer zur Frage der Wiedervereinigung (1952)




Als Stalin am 10. März 1952 dem Westen das Angebot machte, der Wiedervereinigung Deutschlands zuzustimmen unter der Bedingung der Neutralisierung Deutschlands, lautete die entscheidende Frage, ob das Angebot ernst gemeint war. Die Antwort ist ein eindeutiges Nein und zwar aus zwei Gründen, die man nicht erst im Rückblick, sondern schon damals klar erkennen konnte.

Erstens, Moskau hat in dem Notenwechsel niemals zugestanden, daß in ganz Deutschland freie Wahlen stattfinden könnten. Zweitens, Moskau konnte die Sowjetzone nicht aus seinem Herrschaftsgebiet entlassen, weil die Freiheitsbewegungen in den anderen Satellitenstaaten erstarkt wären und Rußland seine Macht über sie verloren hätte.

So sind die Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und den westlichen Alliierten 1952 letztlich daran gescheitert, daß Moskau freie Wahlen in Deutschland als Voraussetzung für Friedensverhandlungen nicht zugestanden hat.

Was nun Adenauers Politik im allgemeinen angeht, so war für ihren bleibenden, ganz unerwarteten Erfolg ein Grund sein politischer Stil: die Klarheit, Einfachheit, Unmißverständlichkeit und Entschiedenheit seiner Sprache und Ausdrucksweise. Darüber haben manche Intellektuelle oft gespottet – in Unkenntnis der politischen Materie, wie man leider sagen muß. Bei der Beratung über die russische Note bemerkte der englische Hochkommissar: „Man müsse schon sehr einfältig sein“, um nicht zu erkennen, daß die russische Note eindeutig sage, daß Deutschland nicht der Nato beitreten dürfe. Darauf Adenauer: „Es ist aber gut, wenn auch der einfältigste Mensch es verstehen kann.“ (Erinnerungen 1953-1955. Stuttgart 1966, 91f.).

Die Ostpolitik betreffend, so hatte Adenauer hier ebenso klare Grundsätze wie für seine Westpolitik. Er meinte, „die echte Verhandlungsbereitschaft der Russen würde sich dann ergeben, wenn sie einsähen, daß der Westen mindestens ebenso stark wie Sowjetrußland war und die Methoden des Kalten Krieges ihnen keine weiteren Vorteile mehr bringen würden“ (S.63). Dann formuliert er eine Einsicht, die nicht nur für die Situation der frühen 50er Jahre gültig war, sondern auch für die prekäre Situation der 80er Jahre, die schließlich zum Einsturz der Sowjetmacht geführt hat: „Sowjetrußland konnte nicht auf die Dauer die Rüstungslasten weitertragen, die es sich aufgebürdet hatte. Sowjetrußland hatte schwere innenpolitische Aufgaben zu erfüllen.“ (S.65) Und wiederum: „Ich bin immer der Auffassung gewesen, daß die Russen, wenn sie sähen, daß die Methoden des Kalten Krieges gegenüber einem gestärkten Europa keine Ergebnisse mehr versprachen, dann mit Rücksicht auf ihre inneren wirtschaftlichen Schwierigkeiten eher geneigt sein würden, mit dem Westen zu verhandeln.“ (S.211)

Über die russische Note vom März 1952 urteilt er sachlich und nüchtern: „Der Plan sah für Deutschland Verpflichtungen vor, die es zu einem neutralisierten und kontrollierten Staat, zu einem Staat zweiter Ordnung machen würde. Würde dieser Plan verwirklicht, würde unser Beitritt zu einem vereinigten Europa und hiermit die Schaffung eines vereinigten Europas selbst verhindert.“ (S.69) Den letzten Punkt, daß mit dem Koalitionsverbot Deutschlands auch die Integration Europas an sich verhindert würde, haben Adenauers politische Gegner damals und die späteren Historiker übersehen. Denn ohne Deutschland, das zentrale, ökonomisch stärkste Land Europas, war eine Union der übrigen westeuropäischen Länder ohne Sinn und Nutzen.

Von der westlichen Antwortnote vom 25. März 1952 bis zu ihrer Note vom 10. Juli 1952 stand in allen Schreiben die echte Freiheit der gesamtdeutschen Wahlen auf der Tagesordnung. Ihr Vorschlag lautete, daß eine UNO-Kommission die Voraussetzungen dafür in Deutschland untersuche sollte. Rußland und die Sowjetzone lehnten diesen Vorschlag ab. Der Westen bestand darauf, daß erst dann eine gesamtdeutsche Regierung gebildet werden könne, wenn wirklich freie Wahlen stattgefunden hätten. Rußland kam dem nur mit der Idee entgegen, statt einer UNO-Kommission sollte eine Vier-Mächte-Kommission jene Voraussetzungen überprüfen – was der Sowjetunion wiederum eine Kontrolle über Gesamtdeutschland geboten hätte. Auf die letzte Forderung des Westen nach wirklich freien Wahlen hat Moskau dann gar nicht mehr geantwortet.

So konnte Adenauer nur resümieren: „Es trat durch den Notenaustausch klar zutage, daß die Sowjetunion die Aushandlung und den Abschluß eines Friedensvertrages mit einem durch eine freie Regierung vertretenen Deutschland im Prinzip nicht wollte.“ (S.131) Und noch einmal: „Während des Notenwechsels des Jahres 1952 hatten die Westmächte immer wieder versucht, die Sowjetunion davon zu überzeugen, daß eine Wiedervereinigung Deutschlands mit freien gesamtdeutschen Wahlen beginnen müsse. Die Sowjets hingegen wollten als erstes über einen Friedensvertrag verhandeln, und zwar nach den Grundsätzen des Potsdamer Abkommens. Freie Wahlen als Ausgangspunkt und Kernstück der ganzen Frage akzeptierten sie nicht.“ (S.214)

Im Zusammenhang mit den geplanten Friedensverhandlungen kam es zu einer harten Auseinandersetzung zwischen Adenauer und den Hochkommissaren. Nach der russischen Note sollten die Vier Mächte einen Friedensvertrag für Deutschland aushandeln, der dann der gesamtdeutschen Regierung vorgelegt werden sollte. Dagegen protestierte Adenauer sehr heftig, weil er fürchtete, daß den Deutschen ein „Diktatfrieden“ auferlegt werde (S.73). Dieses Verfahren erinnerte ihn an den Friedensschluß von 1918 (S.115). Die Hochkommissare bedauerten, daß er Versailles erwähnt habe und schrieben dies seinem „Eigensinn“ zu (S.121). Er erreichte aber mit seiner energischen Intervention, daß in der folgenden Note an Moskau ausdrücklich erklärt wurde, daß Deutschland in allen Phasen an den Friedensverhandlungen beteiligt sein sollte. Außerdem bekam er die Zusicherung, daß die westlichen Alliierten niemals über Deutschland ohne dessen Zustimmung verhandeln würden.

In der Diskussion über den Notenwechsel dieses Jahres wird selten ein machtpolitisches Argument erwähnt, ohne das man die grundsätzliche Politik der Sowjetunion überhaupt nicht verstehen kann. Dieses Argument aber läßt die wahren Absichten Moskaus nur zu deutlich erkennen, wie Adenauer erklärt: „Die Freigabe der Sowjetzone durch die Sowjetunion konnte eine schwere Erschütterung, wenn nicht den Einsturz des ganzen Gürtels von Satellitenstaaten, den die Sowjetunion in Osteuropa errichtet hat, zur Folge haben. … das Freiheitsstreben der Jugoslawen, der Rumänen, der Polen, der Tschechen und der Ungarn würde einen großen Auftrieb erhalten.“ (S.124) In diesem Kontext sollte eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands betrachtet werden, womit er sagen wollte, daß sie von Moskau derzeit nicht ernsthaft gewollt sein könne. Das scheint mir der wichtigste Punkt zu sein, den Adenauers Kritiker damals nicht gesehen und die späteren Historiker oft nicht in ihr Urteil einkalkuliert haben.

Ein Jahr nach dem Notenwechsel mit Moskau, nach dem Tod Stalins kam es zu den Ostberliner Unruhen. Für Adenauer stand fest, daß der „Wunsch nach Freiheit“ und das Recht auf Selbstbestimmung die Kräfte waren, die hinter dem Aufstand vom 17. Juni 1953 gestanden haben (S.222). Er erinnert daran, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu den international allgemein anerkannten Rechten gehört.

Wenig bekannt ist, daß die Bundesrepublik und die amerikanische Regierung eine Aktion starten wollten, in der sie Lebensmittel und Kleidung über kirchliche Organisationen an die Bewohner der DDR verteilen wollten. Die Sowjetregierung aber lehnte „jede Mitwirkung an der von den Vereinigten Staaten geplanten Hilfsaktion ab“ (S.224). 1990 hat Rußland die Lebensmittellieferungen aus der Bundesrepublik gerne angenommen. Helmut Kohl hat auch in diesem Punkt die von Adenauer vorgezeichnete Politik fortgeführt.

Die Debatte über den 17. Juni als nationaler Feiertag der Bundesrepublik hatte ein satirisches Nachspiel. Der Historiker Fritz Stern hielt 1987 die Festrede zu dem Feiertag; er ordnete den Aufstand in Ostberlin in die Geschichte der Freiheitsbewegungen und des Protestes gegen Gewalt und Unmenschlichkeit ein, um dann aber zu erklären: „Es war kein Aufstand für die Wiedervereinigung“ (Fritz Stern, Fünf Deutschland und ein Leben. München 2007, 563). Es gab daraufhin in den Leitartikeln der Zeitungen heftige Proteste und es erschien eine Masse törichter Leserbriefe für und wider Sterns These.

Theo Sommer, Sprachrohr der Zeit und Sekundant Sterns, erfreute die Leser seines Blattes mit der witzlosen Pointe, „daß die Berliner Arbeiter gefordert hatten, Ulbricht solle gehen, und nicht, Adenauer solle kommen“ (l.c. 570). Der politische Journalist hatte vergessen, daß Millionen Flüchtlinge aus der DDR in die Bundesrepublik zu Adenauer gekommen sind.

Fritz Stern aber erkannte selbstkritisch wenig später den Fehler in seiner Argumentation: „Eigentlich hatte ich den Westdeutschen ans Herz legen wollen, daß die Freiheit das höchste Gut ist und der Schutz der Menschenrechte ihre besondere Verantwortung. Ich hätte nur ein bißchen weiterdenken müssen: freie Wahlen, wie die Ostdeutschen sie 1953 forderten, hätten nahezu mit Sicherheit der stalinistischen Herrschaft ein Ende gemacht und zur Vereinigung in der einen oder anderen Form geführt.“ (l.c. 570) Damit hatte er also post festum doch eingestanden, daß der 17. Juni mit Recht Tag der deutschen Einheit hieß.

Wenn man diese Affäre überschaut, muß man erstaunt feststellen, daß auch berühmte Historiker und angesehene Publizisten gelegentlich unter Denkschwäche und geistiger Blockade leiden können. – Im übrigen ist es eine bis heute weit verbreitete Mär, daß Historiker oder andere akademische Spezialisten für eine Weltregion auch über eine politische Kompetenz in Sachen ihres Spezialgebietes verfügten. Als Henry Kissinger 1971 zu seiner Geheimmission nach Peking aufbrach, beriet er sich mit China-Experten einiger berühmter Universitäten – sie konnten ihm keine "entscheidenden Einsichten vermitteln" (Memoiren 1968-1973. München 1979, 749). Ähnliches gilt derzeit wohl auch für die akademischen Ost-Europa-Experten, die ein Monopol in Fragen der Ukraine für sich beanspruchen.

Um das Thema abzuschließen, wäre nicht zu vergessen, daß im Deutschlandvertrag von 1955, der der Bundesrepublik die Souveränität einbrachte, als wichtiges Ziel der Unterzeichnerstaaten festgehalten wurde: „Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung ähnlich wie die Bundesrepublik besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist.“ (Adenauer, Erinnerungen 1953-1955, S.214)

Hier ergab sich der kuriose Fall, daß die sozialdemokratische Opposition es ablehnte, aus Anlaß der erreichten Souveränität, ein großer Erfolg der deutschen Politik, einen parlamentarischen Festakt abzuhalten. Selten hat sich eine Partei so kurzsichtig und so kleingeistig ins politische Abseits manövriert wie die damalige Opposition, denen denn auch viele Wähler wegliefen. Erst Herbert Wehner hat die Partei 1959 mit dem Godesberger Programm wieder in die politischen Realitäten zurückgeführt.


Codewort "Hafergrütze"

Adenauer ist der letzte deutsche Politiker, der zum Mittelpunkt vieler amüsanter und geistreicher Anekdoten wurde. Leider hat er selbst in seinen Memoiren nur wenige Anekdoten erzählt. Ich meine natürlich nicht die Geschichte über seinen Besuch in Colombey-les-deux-Eglises, wo de Gaulle ihn, als einzigen Staatsmann, einlud, in seinem Haus zu übernachten. Es war nicht nur ein Akt französischer Gastfreundschaft, sondern eine hochpolitische Geste, die zeigte, wie sehr de Gaulle die deutsch-französische Beziehung schätzte (l.c. 427ff.).

Ich meine den Bericht über die letzte Begegnung mit John Foster Dulles, dem amerikanischen Außenminister im Februar 1959 in Bonn. Dulles wollte wegen seiner Krankheit nicht an dem offiziellen Essen für ihn teilnehmen. Adenauer bat ihn, dennoch an dem Essen teilzunehmen: "Ich würde ihm durch meine Küche im Palais Schaumburg eine Hafergrützesuppe kochen lassen. Sie würde ihm so serviert werden, daß keiner der anwesenden Gäste merken würde, daß er ein Sondergericht bekäme. Dulles ging auf meine Bitte ein." So geschah es: "Die Hafergrützesuppe aß er mit offensichtlich gutem Appetit."

"Als Christian Herter, der Stellvertreter von Dulles, am 9. Mai zu Beratungen nach Bonn kam, überbrachte er mir Grüße von Dulles und die Bitte, ihm das Rezept für die Hafergrützesuppe zu geben, die er in Bonn gegessen habe. ... Herter berichtete mir, zunächst habe er geglaubt, daß es sich um ein Codewort handele, das zwischen Dulles und mir vereinbart worden sei, bis ihn einer seiner Herren, der bei dem letzten Besuch von Dulles mit in Bonn gewesen sei, aufgeklärt habe, daß es sich in der Tat um eine Hafergrützesuppe handele. Ich ließ Dulles sofort das Rezept übermitteln und dazu einige Pakete mit der Hafergrütze." — Es war das einzige Nahrungsmittel, das er während der Krankheit vor seinem Tode Ende Mai 1959 zu sich nehmen konnte. (l.c. 471; 477f.)

J.Q. — 25. März 2023

© J.Quack


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