Josef Quack

Eine peinliche Begegnung
"Der Beichtstuhl"




Im Beichtstuhl (Dt. H.J. Wille, B. Klau. München 1971; Le Confessionnal 1966) ist ein kurzer Dialogroman, in dem zwei Themen zur Sprache kommen, die Simenon früher auf andere Art und in anderer Form behandelt hat: die Vorstellung, daß die Kinder die Richter ihrer Eltern sind, und die Frage, was es für einen Jungen bedeutet, ein Mann zu werden. In Le fils (1956) hat Simenon die elementare Beziehung zwischen Vater und Sohn exemplarisch besprochen und die folgenschwere Ansicht des Vaters genauestens dargestellt, daß er mit der Geburt eines Sohnes einen Zeugen und einen Richter bekommen hat, der nun sein Leben beobachten und beurteilen werde (cf. J.Q., Über Simenons traurige Geschichten, S.62). Das Problem, was es für einen heranwachsenden Jungen bedeutet, ein Mann zu werden, wird in Le destin des Malou (1947) in der Weise beantwortet, daß der Sohn am Beispiel seines Vaters die Lösung des Problems ablesen kann.

Im Beichtstuhl finden diese beiden Themen in einer originellen Geschichte einen neuen, verblüffenden Ausdruck, und der junge Held des Romans nimmt gegenüber seinen Eltern eine Haltung ein, die zwar unerwartet, aber nicht unverständlich ist. Vielmehr ist es die Intention des Romans, das eigenartige Verhalten des Sohnes plausibel und verständlich zu machen.

André Bar, 16 ½ Jahre alt, fährt eines Nachmittags mit seinem Moped von Cannes nach Nizza, um Francine Boisdieu, 17 Jahre alt, zu treffen, die er bei einem Besuch ihrer Eltern in Cannes kennengelernt hatte. Das Treffen ist eine glückliche Begegnung, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Dem folgt jedoch eine peinliche Begegnung. André sieht seine Mutter aus einem fremden Haus herauskommen und bemerkt, daß sie auch ihn im Rückspiegel ihres Autos gesehen hat. Am nächsten Tag kehrt er zu dem Haus zurück und erfährt, daß es ein Stundenhotel ist. Die zweite Überraschung, der Clou der ganzen Geschichte, aber besteht darin, daß ihn diese Entdeckung nicht besonders berührt. Er hat das Gefühl, „daß ihn das alles nichts anging“ (S.35).

André ist ein Einzelgänger, der auf seine Freiheit bedacht ist (S.60), ein begabter Schüler, der viel Arbeit hat, weil er in einem Monat sein Abitur macht und zwar zwei Prüfungen für das humanistische und das mathematische Abitur. Sein Vater hatte ihm eine dreiwöchige Reise nach Griechenland geschenkt (S.16). Diese Eigenschaften teilt André übrigens mit Johnny, einem Sohn Simenons (Intime Memoiren 1982, 729; 748; 765). Es ist möglich, daß Simenon durch die Selbständigkeit und den Eigensinn Johnnys zu dem Porträt Andrés angeregt wurde. Doch hat die weitere Handlung des Romans nichts mit der Familiengeschichte des Autors zu tun.

Jene peinliche Begegnung, von der auch Andrés Vater auf ungeklärte Weise erfahren hat, hat für André die unangenehmsten Folgen. Sowohl sein Vater Lucien, der als begabter Zahnarzt und geschickter Zahntechniker ganz in seiner Arbeit aufgeht, als auch seine Mutter Josée belästigen ihn mit langen Gesprächen. Sie verbringt ihre Tage ohne sinnvolle Beschäftigung. Die Unterredungen mit seinem Vater empfindet André nicht als richtige Gespräche (S.20) und die ihm aufgezwungenen Gespräche mit seiner Mutter erschöpfen ihn (S.73).

Seine Eltern breiten vor ihm die Probleme ihrer Ehe aus, die eine Mesalliance ist. Josée behauptet, Lucien aus Mitleid geheiratet zu haben. Sie hält die Mütterlichkeit für einen Mythos (S.106), sie stellt sich Liebe als Leidenschaft vor (S.107) und wendet gegen Lucien ein: „Aber außer seiner Eifersucht hat er nie eine Leidenschaft gekannt, und es ist ihm nicht der Gedanke gekommen, daß eine Frau auch ein Weibchen ist. / Seit mehr als vier Jahren hat er mich nicht mehr angerührt.“ (S.113) Lucien aber weiß, daß seine Frau intime Beziehungen zu anderen Männer hat, will sich aber nicht scheiden lassen.

André empfindet diese Bekenntnisse und Enthüllungen als peinlich. Auf die Frage, was die Kinder darüber denken, meint er: „nichts“ (S.97). Ähnlich wie der Protagonist von Le fils meint er zu dem Verhalten seiner Eltern: „Ich spürte, daß mich beide beobachteten, ein wenig wie einen Richter, dessen Urteil sie zu erraten versuchten.“ (S.96) Ihr Verhalten ist jedoch von eigener Art: „Sie waren es, die nacheinander zu ihm gekommen waren, um zu beichten.“ (S.85) Er aber interessiert sich im Grunde nicht für diese Ehegeschichten; er ist dabei, sein eigenes Leben aufzubauen, sein Abitur zu machen, seine Beziehung zu Francine zu pflegen. Es ist ihm sogar gleich, ob Lucien sein natürlicher Vater ist oder der frühere Geliebte seiner Mutter (S.120).

Der Roman schließt, auf die Beobachtung anspielend, daß André die körperlichen Züge eines Kindes abgelegt und eine kräftige Statur gewonnen hat, mit den Worten: „Was sie auch sagten, was sie auch taten, was sie beide dachten, er mußte vor allem sein Examen machen. / Und dann würde es Zeit, daß sein Leben als Mann begann.“ (S.117) Was wohl heißen soll, daß er wirklich selbständig werden möchte.

Formal wäre zu bemerken, daß der Text überwiegend aus Dialogen besteht, und der Dialogcharakter noch dadurch unterstrichen wird, daß bisweilen Gespräche und Berichte über frühere Gespräche ohne Übergang verzahnt sind.

Die Moral der Geschichte aber lautet, daß die sogenannten persönlichen Aussprachen in der Regel ebenso peinlich wie nutzlos sind. Außerdem ergibt sich, daß die Gespräche zwischen Eltern und Kindern meist keine echten Dialoge sind, weil die Partner nicht gleichberechtigt sind oder nicht als ebenbürtig behandelt werden. Es sind keine Wechselreden im Sinn des Wortes. Die einzigen echten Gespräche sind die Unterhaltungen zwischen André und Francine, und die Schilderung ihrer offenherzigen, scheuen und feinfühligen Beziehung, die Darstellung einer entstehenden intimen Freundschaft, bildet das erfreuliche Gegengewicht zu den elterlichen Monologen. Sie sind für den Leser im Grunde nicht weniger mühsam zu ertragen als für André. Insofern ist die Kürze des Romans wohlbegründet.

© J.Quack — 14. März 2023


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