Josef Quack

Anthropologie als Erste Philosophie?

Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metapysik. München: Verlag C.H. Beck 2007.



Die Gabe, sich widersprechen zu lassen, ist wohl überhaupt eine Gabe, die unter Gelehrten nur die Toten haben.

G.E. Lessing

Unter den philosophischen Gelehrten ist Ernst Tugendhat eine Ausnahme. Während manche Philosophen an ihrer einmal konzipierten Lehre festhalten und sich um Einwände wenig scheren, überprüft Tugendhat von Zeit zu Zeit die Grundannahmen seines Denkens, revidiert sie, wenn es notwendig ist, und gibt explizit Rechenschaft über die Korrektur seiner Gedanken; andere Philosophen wechseln allenfalls stillschweigend ihre Position. Zweifel an seinen früheren Lösungsvorschlägen für Probleme führen ihn dazu, neue Hypothesen vorzulegen, und oft genug gibt er zu erkennen, daß sie ihn nicht ganz überzeugen.
Offensichtlich liegt ihm daran, der Idee der intellektuellen Redlichkeit gerecht zu werden, die nicht ohne Grund für ihn eine wichtige Rolle spielt. Er hat ihr in diesem Band einen Aufsatz gewidmet, der mit dem Augustinischen Ausdruck ‚Retraktationen' überschrieben ist. ‚Retractationes' aber könnten die meisten dieser Studien heißen.
Sie sollen im folgenden aber nicht ausführlich referiert werden. Es ist keine umfassende Würdigung des Werkes beabsichtigt, man sollte aber bedenken, daß eine sachliche Kritik gedanklicher Leistungen eine ernsthaftere Form der Anerkennung ist als undifferenziertes Lob. Ich möchte also nur vier Hauptpunkte herausgreifen, die problematisch erscheinen, was heißen soll, daß die von Tugendhat vorgeschlagenen Lösungen nicht plausibel sind oder mehr offene Fragen hinterlassen, als man erwarten könnte. Es handelt sich um seine Einwände gegen die Metaphysik (1), um seine Explikation der Willensfreiheit (2), um seine anthropologische Erklärung der religiösen Einstellung (3) und um eine ergänzende Bemerkung zu dem, was er unter Mystik versteht (4). Einige Literaturhinweise finden sich am Ende der Besprechung.

1. Zur Metaphysik

Tugendhat setzt die philosophische Anthropologie an die Stelle der Metaphysik und zwar nicht deshalb, weil er die modische Rede von dem "Ende der Metaphysik" wirklich ernst nähme. Er argumentiert nicht mit historistischen Gründen gegen die Metaphysik; im Gegenteil: was er unter Anthropologie versteht, ist gleichermaßen gegen die Metaphysik wie gegen den Historismus gerichtet. Ausdrücklich spricht er von anthropologischen Fragestellungen als von unhistorischen Fragen, was natürlich für viele, wenn nicht die meisten seiner dem Zeitgeist hörigen Kollegen eine Provokation ist. Daß er sich unmißverständlich von historistischen Positionen absetzt, unterscheidet ihn wohltuend von allen heutigen Denkern, die der Hegelschen Tradition verpflichtet sind. Er spricht also nicht deshalb, weil sie veraltet oder überholt sei, vom Ende der Metaphysik, sondern weil er unter Metaphysik eine Lehre versteht, die sich auf das Transzendente oder Übernatürliche im Gegensatz zur natürlichen Welt bezieht und er eine derartige Auffassung nicht für begründbar hält.
Der Grund, warum er an ihre Stelle die Anthropologie setzen möchte, ist, daß sie die Funktion der Einheitlichkeit besser erfüllen kann als die herkömmliche philosophia prima mit den beiden Disziplinen der Ontologie und der Theologie. Seine These ist, daß man die menschliche Selbstreflexion, die Reflexion über das Wesen des menschlichen Seins oder über uns als Menschen für die zentrale Thematik der Philosophie halten muß. Er betrachtet das menschliche Verstehen als den gegebenen, gleichsam natürlichen Mittelpunkt, auf den die anderen philosophischen Disziplinen verweisen.
Zugleich ist er sich aber bewußt, daß mit der Ablehnung der Metaphysik die Philosophie oder das menschliche Selbstverständnis die Dimension der Tiefe zu verlieren scheint, die der traditionellen Philosophie eigentümlich war. Die Gefahr der Verflachung sieht er besonders dann gegeben, wenn sich eine religiöse Einstellung nicht mehr vernünftig rechtfertigen läßt. So versucht er nachzuweisen, daß man nach dieser Destruktion dennoch von einer Transzendenz sprechen kann. Er redet von ‚immanenter Transzendenz', und die Frage ist, wie man das zu verstehen hat.
Hier aber ergibt sich ein erster Einwand. Erhellend ist, daß er zwischen einem ontologischen und einem anthropologischen Begriff der Transzendenz unterscheidet, zwischen einem Seinsbereich jenseits der raumzeitlichen Welt und einer dynamischen Beziehung des Menschen auf etwas, was diese Welt überschreitet. In diesem Sinne spricht er von einer Möglichkeit, die Erscheinung oder die Oberfläche der Dinge in Richtung auf ihre Tiefe zu überschreiten. Sie ist gegeben, wenn man bei der Frage nach elementaren Gründen eine Spannung annehmen muß zwischen Erscheinung und Wahrheit, zwischen dem scheinbar Guten und dem wirklichen Guten. Problematisch ist aber die Rede von einer ‚immanenten Transzendenz', weil es sich um ein scheinbares Paradox, ein rein rhetorisches Wortspiel handelt. Der Ausdruck ‚immanent' an der ersten Stelle ist ontologisch gemeint und heißt soviel wie ‚innerweltlich', während der Ausdruck ‚Transzendenz' an der zweiten Stelle nicht ontologisch, sondern anthropologisch gemeint ist, und zwar in dem Sinne, daß er ein Durchdringen der Erscheinungen bezeichnet.
Was die Metaphysik angeht, sollte man die Frage der Benennung nicht überbewerten. Bei Wittgensteins sprachanalytischen Untersuchungen zu psychischen Problemen oder mentalen Ausdrücken, einem Verfahren, dem das Vorgehen Tugendhats vielfach ähnelt, spricht man von philosophischer Psychologie oder von Philosophie der Psychologie, wohl deshalb, weil Anthropologie im Englischen hauptsächlich mit Ethnologie assoziiert wird. Dagegen spricht Peter Bieri, unberührt von gerade herrschenden philosophischen Moden, bei seinem analogen Unternehmen von deskriptiver Metaphysik. Vielleicht sollte man noch auf den Unterschied hinweisen, der zwischen Tugendhats Auffassung und dem besteht, was bei Karl Heinz Haag negative Metaphysik heißt. Haag hält an dem ontologischen Begriff der Metaphysik fest, behauptet aber, daß sich über diese Sphäre keine affirmativen Aussagen machen ließen.
Schließlich könnte man jedoch fragen, ob der Verzicht auf den Begriff der Metaphysik bei einem Philosophen nötig ist, der nach wie vor an Fragen interessiert ist, die üblicherweise als metaphysisch bezeichnet werden, so wenn er vom ‚menschlichen Sein im Ganzen' spricht oder grundsätzliche Fragen der menschlichen Existenz aufwirft und allgemeine Aussagen über die Welt macht. Zweitens kann man fragen, ob die Option für den anthropologischen Ansatz nicht in Gefahr ist, zu einer anthropozentrischen Option zu werden, also eine anthropozentrische Vorentscheidung impliziert. So dort, wo es um Fragen des religiösen Glaubens geht oder um das Problem des Determinismus, das er nicht ohne Grund als psychologischen Kausalzusammenhang versteht, während er das Problem des physikalischen Determinismus nicht in den Blick bekommt. Es ist gewiß keine anthropologische Frage, sondern ein Problem dessen, was man ehedem Metaphysik der Natur nannte.

2. Über die Willensfreiheit

Die Frage, ob unser Wille in seinen Entscheidungen frei ist, ist zweifellos ein echtes philosophisches Problem. Es ist von existentieller Bedeutung für jeden Menschen und die Antwort, wie immer sie ausfallen mag, hat beträchtliche Auswirkungen auf unser Moralverständnis und die Praxis des Strafrechts. Es steht zu vermuten, daß sie nicht von einer Einzelwissenschaft beantwortet werden kann, da keine zu sehen ist, in der auch nur die Frage formuliert werden könnte, und wenn man die Geschichte des Problems betrachtet, liegt die Befürchtung nahe, daß es wie bei vielen philosophischen Problemen keine endgültige Lösung gibt. Wenn dem aber so ist, käme alles darauf an, es wenigstens möglichst klar zu formulieren. Tugendhat unternimmt diesen Versuch und es ist ihm gelungen, einzelne Aspekte genauer zu beschreiben. Freilich hat er auch wesentliche Aspekte ungeklärt gelassen. Seiner Intention nach gibt er eine Beschreibung unseres Freiheitsbewußtseins. Ob dieses Bewußtsein aber bloßer Schein ist oder ob unser Wille tatsächlich frei entscheidet, kann er letztlich nicht beantworten.
Er hat überzeugend dargetan, daß man nur dann hoffen kann, das Problem in den Griff zu bekommen, wenn man einige fundamentale Unterschiede beachtet: die Differenz zwischen Handlungsfreiheit und Willensfreiheit, die Differenz zwischen äußerem und innerem Zwang, zwischen Verantwortlichkeit oder Zurechnungsfähigkeit und Nichtverantwortlichkeit, dann den Gegensatz zwischen Indeterminismus und Determinismus, zwischen Inkompatibilismus und Kompatibilismus, den Unterschied zwischen kausaler Sprache und der Rede von Gründen. Es klingt zunächst plausibel, daß er es für notwendig hält, zwischen Zwang und kausalem Determiniertsein zu unterscheiden. Doch trägt er der intuitiven Annahme nicht genügend Rechnung, daß das kausale Determiniertsein auch als eine Art von Zwang erscheint.
Das hat seinen Grund darin, daß er den Begriff des Determinismus nicht hinreichend deutlich expliziert. Man erfährt, daß er darunter einen kausalen Beziehungskomplex versteht und daß derartige Beziehungen nur zwischen Ereignissen vorkommen können. In einem Nachtrag räumt er aber ein, daß man im Falle der Verantwortlichkeit, wenn gesagt wird, daß eine Person auch hätte anders entscheiden können, voraussetzen muß, daß eine Beziehung zwischen einer Entität, einer Person, und einem Ereignis vorliegt. Da er den Begriff der Kausalbeziehung über diese minimale Beschreibung hinaus nicht weiter präzisiert, versteht man nicht recht, was es heißen soll, daß das "Ichgeschehen" im Falle willentlichen Verhaltens kausal bestimmt sein soll. Um den Einfluß des Willens auf den Kausalfluß zu veranschaulichen, greift er zur Metapher eines Knotens im Bindfaden; genau betrachtet, könnte man hier aber nur von einer Hemmung oder Verzögerung, nicht von einer wesentlichen Änderung reden.
Kritisch anzumerken ist auch, daß die Erklärung, unter der Willensfreiheit habe man ein "wollendes Sichverhalten zum eigenen Wollen" zu verstehen, genauer analysiert werden müßte. Er behauptet, daß es offen sei, ob man das Phänomen, das mit der Metapher des Knotens beschrieben wird, auf Kausalzusammenhänge reduzieren könne, und fügt hinzu, daß daran "für die Struktur der Willensfreiheit" nicht abhänge - was zumindest mißverständlich erscheint.
Eine Hauptschwierigkeit ergibt sich daraus, daß er den Begriff des Determinismus nicht deutlich genug umreißt. Offensichtlich meint er damit den psychologischen Determinismus, den man vom physikalischen Determinismus zu unterscheiden hätte. Der psychologische Determinismus ist aber, wie Karl Popper gezeigt hat, derart unbestimmt, daß er mit dem physikalischen Indeterminismus durchaus vereinbar ist. Es ist eine offene Frage, ob diese Unbestimmtheit überhaupt reparierbar ist, ebenso, ob es eine befriedigende, hinreichend genaue Erklärung der Kausalität gibt. Wenn jedoch der physikalische Determinismus begründet ist, dann wäre unser Freiheitsbewußtsein bloßer Schein und Selbsttäuschung. Allerdings wäre die Annahme eines physikalischen Inderminismus nicht genug; anders gesagt, muß man annehmen, daß die Alternative zwischen Determiniertsein und Zufall keine vollständige Disjunktion ist, wie viele Philosophen mit Schlick behaupten. Vielmehr muß man so etwas wie ‚plastische Steuerung' (Popper) in Anspruch nehmen.
Übrigens gleichen sich Poppers Menschenbild, trotz seines Spotts über die sprachanalytische Begriffsexplikationen, und Tugendhats Anthropologie in einem zentralen Punkt. Beide schreiben dem Moment der Überlegung und der deskriptiven und argumentativen Funktion der Sprache eine entscheidende Rolle in ihren Erklärungen des spezifisch Menschlichen zu. Und sie halten die kommunikative Funktion für eine Fähigkeit, über die auch andere Tiere verfügen.
Ein weiteres ungelöstes Problem stellt sich im Zusammenhang der Subjekttheorie. Tugendhat wird nicht müde, auf den elementaren Unterschied hinzuweisen zwischen ‚ich' als Personalpronomen, mit dem ein Sprecher sich auf sich bezieht, und dem substantivierten ‚Ich', das einen Wesenskern der Person oder einen Kern in mir bezeichnen soll. Diese Vorstellung lehnt er mit gutem Grund ab. Macht er an sie aber nicht eine unnötige Konzession, wenn er von ‚Ichgeschehen' oder ‚Ichstärke' spricht? Einmal bezeichnet er den Menschen als psychophysisches Wesen, ohne allerdings näher darauf einzugehen, wie das zu verstehen ist, und ohne anzudeuten, daß damit die klassische Frage des Leib-Seele-Verhältnisses verbunden ist. Dieses Problem scheint er bewußt auszusparen, und man kann vermuten, daß es mit der Denkmitteln einer sprachanalytisch operierenden Anthropologie kaum expliziert werden kann. Was in der philosophischen Tradition Geist oder Seele genannt wurde, kann nur zum Teil mit dem umschrieben werden, was Tugendhat mit Selbstbewußtsein meint und überzeugend analysiert hat.

3. Über die Religion

Das Thema der Religion oder die Frage nach Gott war vor zwanzig Jahren allenfalls ein Randthema der philosophischen Diskussion. Heute findet es dagegen zunehmend Aufmerksamkeit in der Philosophie, und fraglos folgt mancher Philosoph dem Zeitgeist, wenn er das Thema aufgreift; sonst hätte er keine Chance, vom Feuilleton und den Mitläufern des Zeitgeistes beachtet zu werden.
Bei Tugendhat scheint dies nicht der Fall zu sein. Seine Auffassung ist in dieser Hinsicht erfreulicherweise klar und bestimmt. Er hält sich nicht an einen verschwommenen Religionsbegriff, der jeden die natürliche Welt transzendierenden Glauben als religiöse Einstellung bezeichnet, sondern an einen engen Begriff; er besagt, daß damit die Vorstellung eines übernatürlichen personalen Wesens verbunden ist. Seine These ist anthropologisch und lautet, daß es ein allgemeinmenschliches Bedürfnis zu glauben gibt: "Die Menschen brauchen den Gottesbezug, aber er ist unerfüllbar". Er führt das religiöse Postulat auf die Erfahrung der Kontingenz zurück, erklärt aber, daß "alles kontingente Geschehen sich kausal erklären" lasse und "Gott sich als Projektion einer Wunschvorstellung" erweise.
Dazu wären drei Anmerkungen zu machen. Richtig ist seine Argumentation, daß es logisch unzulässig ist, von dem Bedürfnis zu glauben auf die Wahrheit des Geglaubten zu schließen. Es ist intellektuell unredlich, nur deshalb einen Glauben anzunehmen, weil man das Bedürfnis zu glauben hat. Diese Argumentation wird von vielen Religionskritikern, aber auch von Theologen geteilt, die, wie Hans Albert referiert, "in der Reduktion der Religion auf eine Kulturnotwendigkeit und damit auf menschliche Bedürfnisse geradezu blasphemische Züge erblickt haben". Und Bertrand Russell erklärt: "Ich kann Achtung vor Menschen empfinden, die das Argument vorbringen, die Religion sei wahr und deshalb sollte man daran glauben, aber diejenigen, die sagen, man sollte an die Religion glauben, weil sie nützlich sei, und die Frage nach ihrem Wahrheitsgehalt sei nur eine Zeitverschwendung, kann ich sittlich nur zutiefst verurteilen." Was man Tugendhat vorhalten kann, ist, daß bei ihm die Kritik der religiösen Wahrheiten, die Diskussion des inhaltlichen Wahrheitsanspruchs des Glaubens entschieden zu kurz kommt.
Zweitens kann man feststellen, daß die Kategorie des Bedürfnisses, ein spezifisch anthropologischer Begriff, in den Überlegungen Tugendhats eine zentrale Rolle spielt, aber merkwürdigerweise unexpliziert bleibt. Selbstverständlich wäre es unsinnig, von einem Philosophen zu verlangen, daß er alle seine Begriffe erklärt oder gar definiert. Doch ist es nicht unbillig, von ihm zu erwarten, daß er die Grundbegriffe seiner Argumentation näher erläutert. Hier hören wir von einem Bedürfnis nach Wechsel, einem Bedürfnis sich zu sammeln, einem Bedürfnis sich als klein anzusehen, einem Bedürfnis nach Religion und Mystik, einem Bedürfnis zum Weiterleben. Man versteht in etwa, was damit gemeint ist, weil wir wissen, was mit sinnlichen oder leiblichen Bedürfnissen gemeint ist, etwa dem Schlafbedürfnis. Doch hätte man gerne gewußt, was in jenen Fällen genauer gemeint ist. So könnte man vermuten, er halte diese Kategorie für einen nicht weiter analysierbaren Begriff.
Übrigens ist das Bedürfnis zum Weiterleben, das Tugendhat als biologische These einführt, um die Angst vor dem Tode zu erklären, zunächst zwar plausibel, letztlich aber nicht ganz überzeugend. Wenn es um den Bestand der menschlichen Population geht, dürfte das Bedürfnis der Fortpflanzung der Species doch wichtiger sein. Dies ist denn auch das Argument, das Schopenhauer in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe ausbreitet. Auch Russell kommt darauf zurück, wenn er schreibt, "daß Kinder in jedem Fall ein biologisches Entkommen vor dem Tod ermöglichen, indem sie das eigene Leben zu einem Teil des großen Stromes machen, statt zu einem stagnierenden Tümpel, der sich nicht in die Zukunft ergießt".
Wenn das Wesentlichste, was die philosophische Anthropologie zur Religion zu sagen hat, die Sache mit dem Bedürfnis ist, hat sie zu dem Problem ein bißchen wenig zu sagen. Und die Erklärung eines Phänomens durch den Hinweis auf eine Bedürfnisstruktur könnte man Biologismus nennen, so wie man die Methode der Erklärung, die, wie häufig bei Nietzsche, alle Äußerungen auf Motive zurückführt, Psychologismus nennen kann. In beiden Fällen liegt der Verdacht der Immunisierung nahe. Jeder Widerspruch kann auf ein Bedürfnis zurückgeführt oder durch ein Motiv erklärt und damit zurückgewiesen werden. Aber natürlich kommt es nicht sowohl auf das Bedürfnis oder das Motiv des Widerspruchs an, als vielmehr darauf, ob er wahr oder falsch, begründet oder unbegründet ist.
Drittens bleibt Tugendhat leider unentschieden, wenn es um den Rekurs auf die Freudsche Auffassung geht, die religiöse Erfahrung einer unvergleichlichen Größe sei eine Projektion einer infantilen Erfahrung. Er hält diese Auffassung einmal und, wie ich meine, zu Recht für abwegig. Dann konzediert er im Zusammenhang der Verantwortlichkeit, die Menschen blieben in dieser Hinsicht ein wenig infantil. Später betont er wiederum, daß die Erfahrung des Erwachsenen sich von der Erfahrung des Kindes qualitativ unterscheide und daß "in der Religion ein ganz anderer Selbstbezug impliziert" sei als in der Kindheit. Wäre seine Abgrenzung in diesem Punkt entschiedener, wäre damit eine Religionskritik à la Freund erledigt.
Schließlich sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Tugendhat herausarbeiten will, daß wesentliche menschliche Verhaltensweisen wie Danken sich nicht mehr befriedigend verstehen lassen, wenn man sie nicht mehr auf einen spezifisch religiösen Glauben beziehen kann. Es geht ihm also darum, die Gefahren der Verflachung oder, wenn man will, der Trivialisierung und des Unernstes zu erläutern, die mit der Negation des religiösen Glaubens verbunden sind. Vielleicht hat er in dieser Hinsicht das Phänomen der kosmischen Dankbarkeit unterbewertet, auf das zum Beispiel Russell in seiner Kritik des philosophischen Pragmatismus aufmerksam gemacht hat.

4. Zur Mystik

Lange Zeit war in der modernen Philosophie das Wort ‚Mystik' samt seinen Ableitungen ein Synonym für Obskurantismus, der Inbegriff alles dessen, wogegen eine aufgeklärte Philosophie ankämpft. Obwohl sich auch hier die Zeiten geändert haben, war es doch eine Überraschung, als Tugendhat vor wenigen Jahren die Studie über Egozentrizität und Mystik (2003) herausbrachte. Er fragt nach den anthropologischen Wurzeln der Mystik, und er kann die Antwort nur geben, weil er scharf zwischen Mystik und Religion unterscheidet, obwohl beide Phänomene in der europäischen Kultur immer und in der asiatischen Kultur meist zusammen auftraten. Als mystische Haltung versteht er ein Gesammeltsein in sich, ein Gesammeltsein, das zugleich die Welt im Ganzen zum Gegenstand hat. Er beschreibt das Phänomen als eine Haltung, bei der das Eigeninteresse an den Rand des eigenen Bewußtseins tritt, als Form einer Selbstrelativierung.
Nun läßt sich fragen, ob sich diese Einstellung nicht deutlicher aufhellen ließe, wenn man sie mit einer alltäglichen Erfahrung vergleicht. Gemeint ist eine Form der Selbstvergessenheit, wie sie zum Beispiel beim Nachdenken, Lesen, Spielen und Arbeiten immer dann gegeben ist, wenn man sich einer Sache vollständig hingibt. Damit ist keine Selbstaufgabe gemeint und erst recht kein Selbstverlust gegeben. Gewiß ist diese Art der Selbstvergessenheit kein Wert an sich; ihre Güte hängt vielmehr meist vom Wert der Sache ab, um die es geht. Man muß zugeben, daß die Analogie zur mystischen Selbstrelativierung nur sehr begrenzt ist. Der Fall könnte uns aber bewußt machen, daß es viele, durchaus profane Einstellungen gibt, wo wir Abstand von uns selbst gewinnen. Natürlich ist damit nicht behauptet, daß das immer eine Negation des Egoismus sein müßte.

Literaturhinweise

Hans Albert, Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens. Tübingen 1994.

Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. Frankfurt am Main 2007.

Klaus-M. Kodalle, "Gott". In: Ekkehard Martens, Herbert Schnädelbach (Hg.), Philosophie. Ein Grundkurs. Reinbek 1989.

Karl R. Popper, "Über Wolken und Uhren. Zum Problem der Rationalität und der Freiheit des Menschen." In: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg 1995.

Bertrand Russell, Warum ich kein Christ bin. Über Religion, Moral und Humanität. Dt. M. Steipe. Reinbek 1976.

Robert Spaemann, "Der Gottesbeweis. Warum wir, wenn es Gott nicht gibt, überhaupt nichts denken können." Die Welt 26. 3. 2005.

Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band IV. Stuttgart 1989.

Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. München 2003.



J.Q. — 15. Sept. 2007

©J.Quack


Zum  Anfang