Josef Quack

Benedikt XVI. über die Krise der Kirche





Was man aus Rom zuletzt über die durch die Mißbrauchsfälle verursachte Krise der Kirche hören konnte, was teils verharmlosend, im ganzen enttäuschend. In dieser Situation ist es vielleicht angebracht, daran zu erinnern, daß Benedikt schon 2010 das Nötigste zu dem Skandal im Klartext ohne jede Verharmlosung gesagt hat – in dem Gespräch mit Peter Seewald: Licht der Welt. D.h. Ratzinger hat genau das gesagt, was Franziskus nicht gesagt hat, aber hätte sagen müssen. Es scheint aber für die Berichterstattung über die Kirche typisch zu sein, die die Medienleute entweder ein kurzes Gedächtnis haben oder zu bequem sind, nachzulesen, was früher Relevantes zum Thema erklärt worden war. Daß man im Vatikan nicht auf die unmißverständlichen Worte Benedikts zurückgegriffen hat, ist ein vielsagender Nebenaspekt des Skandals.
Zu den Mißbrauchsfällen durch Kleriker sagte Benedikt:

„Es ist eine besonders schwere Sünde, wenn jemand, der eigentlich den Menschen zu Gott helfen soll, dem sich ein Kind, ein junger Mensch anvertraut, um den Herrn zu finden, ihn stattdessen mißbraucht und vom Herrn wegführt. Dadurch wird der Glaube als solcher unglaubwürdig, kann sich die Kirche nicht mehr glaubhaft als Verkünderin des Herrn darstellen." (S. 42)

Zu beachten ist hier auch der letzte Satz, der ausspricht, daß durch diese klerikalen Verfehlungen die Kirche insgesamt ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren droht. Diesen Punkt betont er dann in der schonungslosen Feststellung, die manche Kirchenleute heute nicht wahrhaben möchten:

„Die größte Verfolgung der Kirche kommt nicht von den äußeren Feinden, sondern erwächst aus der Sünde der Kirche selbst.“ (S. 44)

Er weiß zwar, daß es auch eine kirchenfeindliche Presse gibt, die die Mißbrauchsaffäre zum Anlaß nimmt, um gegen den Katholizismus und den Papst Propaganda zu machen. Doch läßt er diesen Aspekt nicht als mildernden Umstand für die Kirche gelten, sondern erklärt vielmehr eindeutig:

„Soweit es Wahrheit ist, müssen wir für jede Aufklärung dankbar sein. … Und schließlich hätten die Medien nicht in dieser Weise berichten können, wenn es nicht in der Kirche selbst das Böse gäbe. Nur weil in der Kirche das Böse war, konnte es von anderen gegen sie ausgespielt werden.“ (S.44)

In dem hier auszugsweise abgedruckten Hirtenbrief an die Katholiken Irlands vom 19. März 2010 hat er das Thema dann ausführlicher behandelt. In dem Gespräch zeigt er auch Verständnis für Menschen, die angesichts des Skandals aus Protest aus der Kirche austreten. — Übrigens kommt Benedikt hier auch zum ersten Mal darauf zu sprechen, daß ein Papst unter Umständen die Pflicht haben kann, zurückzutreten.
Das Thema bringt es mit sich, daß er auch auf die katholische Sexualethik zu sprechen kommt, und es ist ebenso unmißverständlich klar, daß er hier die traditionelle Auffassung vertritt. So verteidigt er im wesentlichen die bekannte These, daß man Sexualität und Fruchtbarkeit nicht trennen dürfe. Es ist dann auch nur konsequent, daß er die Homosexualität moralisch verurteilt und in dem besonderen Fall erklärt:

„Homosexualität ist mit dem Priesterberuf nicht vereinbar. Denn dann hat ja auch der Zölibat als Verzicht keinen Sinn“. (S. 181)

Die Mißbrauchsfälle haben aber gezeigt, daß man in der Zulassung zum Klerus dieses Verbot in den letzten Jahrzehnten gewöhnlich nicht mehr befolgt hat. Die Frage wird derzeit in Kirchenkreisen heftig diskutiert.
Zu dem grundsätzlichen Aspekt der Sexualethik wäre manches zu sagen. Hier mag ein Hinweis genügen. Der Philosoph Norbert Hoerster gibt wohl eine allgemein geltende Beobachtung wieder, wenn er feststellt, „daß die Sexualmoral der katholischen Kirche – zumindest wie sie in Deutschland sowohl von den Fachleuten vertreten als auch von vielen Gläubigen praktiziert wird – inzwischen zu weitgehend andersartigen (freilich viel weniger eindeutigen) Urteilen als den in einer jahrhundertelangen Tradition stehenden Urteilen Jones gelangt ist“ (N. Hoerster, Die Frage nach Gott, 2007, 73). Er bezieht sich auf die seinerzeit einflußreiche Moraltheologie von Heribert Jone, die noch in den 1960er Jahren weit verbreitet war. Ratzingers Position dürfte mit Jones Auffassung im Kern übereinstimmen.
Hoerster aber sieht in dem unbestreitbaren Wandel in der Sexualmoral ein schweres intellektuelles Problem, weil dieser Wandel den „Eindruck einer vollkommenen inhaltlichen Beliebigkeit der göttlich inspirierten Weisungen“ zurücklasse. Damit hat Hoerster die Frage berührt, wie die Normen jener Sexualethik begründet werden. Er hat dieses Moment nicht weiter diskutiert, weil es ihm in erster Linie um eine kritische Prüfung des christlichen Glaubens geht. Auch ich werde hier jene Frage nicht besprechen, sondern mich mit der Bemerkung begnügen, daß sie bekanntlich auf ein weites, unübersichtliches und umstrittenes Feld führt.
Wie dem aber sei, man kann der schonungslosen Analyse, die Ratzinger vom augenblicklichen Zustand der Kirche gegeben hat, nur zustimmen.

J.Q. — 17. Juli 2019

© J.Quack


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