Josef Quack

James Fenimore Cooper lesend


Bemerkungen zu den Lederstrumpf-Romanen



Allgemein sei, und mit Nachdruck, darauf hingewiesen, daß unsere Vorstellung von ‚Indianern‘ auf dem einen Manne Cooper beruht.

Arno Schmidt

Ich kenne keine entspanntere Lektüre während der Wintermonate als die Lektüre der spannenden Lederstrumpf-Geschichten, selbstverständlich in der ungekürzten, vollständigen Fassung der fünf umfänglichen Bände und zwar in der von Rudolf Drescher besorgten Edition aus den dreißiger Jahren, die wiederum eine Überarbeitung und Ergänzung früherer Verdeutschungen aus dem 19. Jahrhundert ist. Die Ausgabe ist deshalb unschätzbar und jeder neueren Übersetzung überlegen, weil sie das kernige ältliche Deutsch mit Redensarten verwendet, das heute niemand mehr kennt.

Dies ist die Reihenfolge der Entstehung der Bände:
Die Ansiedler (The Pioneers or the Soures of the Susquehana) – 1823
Der letzte Mohikaner (The last of the Mohicans) – 1826
Die Prärie (The Prairie) – 1827
Der Pfadfinder (The Pathfinder) – 1840
Der Wildtöter (The Deerslayer) – 1841

Und dies ist die Reihenfolge nach dem Zeitangaben der Handlung:
Der Wildtöter spielt um 1740, Natty ist Anfang 20
Der letzte Mohikaner spielt 1757, im French and Indian War, Natty ist Ende 30
Der Pfadfinder spielt 1759, im gleichen Krieg
Die Ansiedler spielt 1793/94, Natty ist Anfang 70
Die Prärie spielt 1804, Natty ist Anfang 80.

Wie es sich gehört, beginne ich mit dem zuerst entstandenen Roman der Serie, den Ansiedlern, weil Lederstrumpf, eine unsterbliche Gestalt der Weltliteratur, ein Archetyp der Menschheit, hier zum ersten Mal auftritt, und weil der Roman mit der Schilderung eines Winterabends, am 24. Dezember, anfängt. Ich will hier nicht die abenteuerlichen Ereignisse der folgenden Monate nacherzählen, die höchst riskante Abfahrt der Schlitten mit widerspenstigen Pferden in tiefem Schnee, das Wettschießen um einen Truthahn, die gefährliche Hirsch- und Pantherjagd, den alles Leben bedrohenden Waldbrand, sondern ein paar Dinge erwähnen, die mir besonders aufgefallen sind.

Da ist zunächst das üppige Abendessen im Herrenhaus, das sich folgendermaßen ausnimmt und dessen Schilderung zugleich einen Eindruck von dem prächtigen Deutsch der Übersetzung vermittelt, ein Stilleben der Tafelfreuden:

Vor Elisabeth stand ein großer gebratener Truthahn, während Richard einen gekochten Vogel derselben Spezies vor sich hatte. Im Mittelpunkt der Tafel befanden sich ein paar schwere silberne Aufsätze, von vier Platten umgeben, deren eine ein Frikassee von grauen Eichhörnchen, eine andere gebackenen Fisch, die dritte Fisch in Soße und die letzte Wildbretschnitten enthielt.
Zwischen diesen Gerichten und den Truthühnern stand auf der einen Seite eine ungeheure Porzellanplatte mit Schwarzwildbret und auf der anderen eine köstliche Schöpsenkeule. Unter dieser Menge von Fleischsorten waren alle Arten von Gemüse, welche das Land und die Jahreszeit boten, aufgestellt.
Die vier Enden der Tafel waren mit Kuchentellern garniert. Der eine enthielt eine mit wunderlichen Figuren hoch aufgeputzte Masse, welche ‚Nußkuchen‘ hieß; ein anderer war mit einer schwarz aussehenden Substanz besetzt, die ihre Farbe wohl einer Beimischung von Sirup verdankte, und ‚Süßkuchen‘ genannt wurde, - ein Lieblingsgericht in Remarkables, der Köchin, Kränzchen; der dritte beherbergte das, was sie als ‚Pfefferkuchen‘ betitelte, und auf dem vierten präsentierte sich eine Substanz von ziemlich verdächtiger Farbe, die von der großen Anzahl Rosinen, die allenthalben ihre bräunlichen Bäuche in die Höhe reckten, den Namen ‚Fruchtkuchen‘ erhalten hatte.
Neben diesen Gerichten standen Schalen mit dicken Flüssigkeiten von etwas zweideutiger Färbung, aus der kleine, schwarze Brocken von einer Substanz, die sich nur mit sich selbst vergleichen ließ, hervorsahen – eine Komposition, welche Remarkable Eingemachtes betitelte. Vor jedem der mit dem Boden noch oben gekehrten Teller, welche den zierlich in Kreuzform gelegten Bestecken zur Unterlage dienten, befand sich ein anderer von geringerem Umfange, auf dem sich je eine scheckige Pastete befand, die mit dreieckigen Äpfelschnitzchen, Fleischschnitten, Puddingmasse, Brombeeren und Eierrahm gefüllt war und mit dem übrigen Arrangement ein prunkvolles Ganzes bildete. In die noch freien Stellen waren Branntwein-, Rum-, Wachholder- und Weinflaschen, nebst einigen Krügen von Zider, und eine mit dem dampfenden Naß des ‚Flip‘ gefüllte Bowle eingeschoben.
Alle Gäste mitsamt dem Wirte schienen in dem Beschriebenen lauter bekannte Gerichte zu finden; denn jeder begann mit einem Appetit zu essen, der Remarkables Geschmack und Geschicklichkeit zu hohen Ehren gereichte.

Man sieht, Amerika war damals im Vergleich zu Europa, ein mit natürlichen Früchten überreich gesegnetes Land, wenngleich sich auch wohl nicht alle Siedler ein derart imposantes Festessen leisten konnten. Freilich wird auch von Hungerjahren berichtet, wo die Kolonisten sich von den raren Früchten des Waldes ernähren mußten.

Dann ist mir eine gesellschaftliche Eigenart aufgefallen, die zu dem thematischen Kern des Romans führt, die Eigenart nämlich, daß diese seit wenigen Jahren bestehende Siedlung von ein paar hundert Einwohnern zwei Anwälte und einen Richter beherbergt, ein Hinweis auf den streit- und prozeßsüchtigen Charakter der Nation.

Damit sind zwei Haupteigenschaften der Amerikaner genannt und beschrieben: ihre Vorliebe für kräftiges Essen und ihre Rechthaberei, ihr Hang zum Prozessieren.

Richter Temple ist der Gründer der Siedlung, der Besitzer des Herrenhauses, und der Gegenspieler von Natty Bumppo. Kurz gesagt, handelt es sich um den Gegensatz zwischen dem Recht, das dem Menschen von Natur gegeben ist, und dem Recht, das von Staat und Zivilisation gesetzt wird, ein Gegensatz, der praktisch mit den ersten Sätzen, die der Lederstrumpf äußert, klar ausgesprochen wird: „Es leben viele, welche behaupten, daß Nathanael Bumppos Recht, auf diesen Bergen zu schießen, älter sei als Marmaduke Temples Recht, es ihm zu verbieten.“

Natty verteidigt die Freiheit der Wildnis, er ist der Mann des Naturrechts und der Anwalt des natürlichen Lebens, der klugen, auf das Lebensnotwendige beschränkten Jagd. Aber auch Temple teilt in manchem Nattys Ansicht, er verurteilt die schonungslose Ausbeutung des Waldholzes, doch wird er mit den von ihm erlassenen Vorschriften zum Gegenspieler Lederstrumpfs.

Skeptisch gegen alle zivilisatorischen Fortschritte und Verbesserungen, erklärt Natty: „Aber ich bin nur ein einfacher, ungelehrter Mann, der seinerzeit sowohl dem König als seinem Lande gegen die Franzosen und gegen die Wilden gedient, aber seine Lebtage nie in ein Buch gesehen oder auch nur einen Buchstaben daraus gelernt hat. Ich habe nie den Nutzen solchen Stubensitzens einsehen können, und doch ist mein Haupt jetzt bald kahl. Nein, da lobe ich mir das Freie.“

Das Buch, eine glückliche Kombination von Abenteuergeschichte, Naturschilderung und Gesellschaftsroman, beschreibt die bunteste Menschenschar. Darunter befindet sich auch ein französischer Emigrant, der die Nachricht erhält, daß er wieder in seine Heimat zurückkehren kann. Bevor er abreist, sucht er die beiden vornehmsten Töchter des Ortes auf, um ihnen einen Heiratsantrag zu machen, weil er das für schicklich und für ein reines Kompliment hält. Als seine Zechgenossen ihn überreden wollen, das Angebot auch der knochigen Remarkable zu machen, lehnt er ab – sie hätte das Angebot nämlich angenommen.

Dies ist nur ein Beispiel für die humoristische Seite des Romans, die nicht der geringste Anreiz ist, ihn zu lesen. Unvergessen ist auch die Szene, wo der vierschrötige Hausmeister Ben Pump einem ränkesüchtigen Dorfbewohner „das Gesicht aus der Form schlägt“. Eine anschaulichst genaue Wortprägung, die im Gedächtnis haften bleibt. Ben, ein ehemaliger Seemann, leistet sich den Witz, die Gefängnistür von innen zu versperren, so daß der Wärter nicht mehr reinkommt.

Damit komme ich zu dem zwiespältigen Urteil Arno Schmidts, der Cooper das dichterische Talent abgesprochen hat und nur seine Landschaftsschilderung, die Treue seiner Geschichtsschreibung und den Reichtum des kulturhistorischen Materials gelten ließ, auch die Darstellung einfacher Leute, vor allem aber die Schöpfung des Lederstrumpf.

Schmidt merkt nicht, daß seine Argumentation nicht ganz schlüssig und überzeugend ist. Er wirft Cooper vor, daß er einen geringen Wortschatz („5000 werden‘s sein“) habe und seine metaphorische Kraft unbedeutend sei. Zugleich lobt er seine Landschaftsbeschreibung und die Erfindung einer Menschheitsfigur, wie der Lederstrumpf eine ist. Schmidt ist sich nicht bewußt geworden, daß man demnach ein Meister der Landschaftsschilderung und der Personendarstellung sein kann mit den einfachsten, seines Erachtens unzulänglichsten Mitteln der Prosa. Schmidt hat zudem Coopers rhetorisches Talent, die Kunst der wohlgesetzten Rede, seinen durchaus eingängigen Predigtstil völlig übersehen.

Offensichtlich hat er sein Stilideal, die metaphorisch ausgeklügelte Prosa in der Manier von Joyce, als Maßstab genommen, um daran „Cooper of the woods and waves“ (Stevenson) zu messen. Andersch, ein Vertreter einer metaphernlosen Prosa, hat mal gegen zwei thematisch unbedeutende Erzählungen Schmidts und ihre Sprachkraft sehr witzig eingewandt: „Es kommt mir so vor, als benutzten Sie ein Atomkraftwerk zum Eierkochen“.

Überflüssig zu erwähnen, daß es auch in der modernen Literatur Schriftsteller höchsten Ranges gibt, deren Stilideal die einfachste, ungekünstelte Prosa ist und daß die künstlerische Einfachheit des Schreibens die größte Anstrengung erfordert. Es genügt, intellektuell so verschiedene Autoren wie Kafka, Brecht und Simenon zu nennen. Lichtenberg, selbst ein Meister dieser Kunst, hat die edle, d.h. bewußt erstrebte Einfachheit der Prosa beredt verteidigt. Das gleiche meint Schopenhauer, wenn er schreibt: "Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge." — Nach meiner Meinung ließ sich die Figur des Lederstrumpf eben nur in dieser schlichten Prosa glaubwürdig darstellen.

Um auch das noch zu Schmidt zu sagen, er hat, entgegen seiner absprechenden Meinung, manche Formulierung des ältlichen Deutsch in den Übersetzungen Coopers sichtlich genossen und seinem Wortschatz einverleibt. Er war nun mal ein Mann entschiedener Urteile in Fragen der Literatur, auch der Politik – und man sollte sie genau so kritisch lesen, wie er die Urteile anderer Autoren auffaßt.

Denn Schmidt irrt offensichtlich noch in einem anderen Punkt. Er behauptet, in dem Nachwort zu dem von ihm übersetzten Conanchet, von Stifters "Hochwald", "der ja, im Einzelnen wie im Ganzen, nichts als eine kindlich-merkwürdige Abbreviatur des Deerslayer ist". Da dieser Roman Coopers 1841 erschienen ist und Stifters Erzählung nach der Angabe der Studien im gleichen Jahr entstanden ist, kann der Wildtöter nicht gut das Vorbild für den "Hochwald" gewesen sein. Daß Stifter von Coopers Naturschilderung wesentlich beeinflußt ist, steht außer Frage, er kannte sicher die früheren Lederstrumpf-Romane.

Ich aber schätze gerade das, was in den Ausgaben für die Jugend weggelassen wurde: die ausführlichen, stundenlangen Gespräche, die Umständlichkeit der Reden, die Wiederholung der klugen und der bisweilen über die Maßen eigensinnigen Ansichten der Personen, womit eine dritte signifikante Eigenschaft der Amerikaner von Cooper registriert wird, ihre bornierte, sektiererische, unbelehrbare Sturheit, die negative Seite ihres Freiheitsbewußtseins. Vor allem aber schätze ich die genaue, wortreiche, alle Blickwinkel beachtende Schilderung der Landschaft, die bunten Varianten der Personendarstellung – kurzum, die epische Seite der Romane, die der abenteuerlichen Seite des Textes auf das schönste die Waage hält.

Schließlich begegnet man hier einem ungelösten Rätsel des Realismus in der Literatur: wie es einem Romancier gelingt, eine lebendige, wirklichkeitsgetreue Figur zu schaffen. Das Rätsel ist ungelöst, die Erfindung einer lebensfähigen Person gelingt einem Autor höchst selten, sie ist nicht planbar, sie liegt nicht im Willen des Autors, sie ist keine Sache der Intention, sondern der Inspiration, des reinen Glücks. Wir erleben hier den ersten Auftritt einer Gestalt, die legendär wurde und in die Weltliteratur eingegangen ist. Aber auch Cooper hat erst im nachhinein erkannt, daß Lederstrumpf das Zeug hat, in weiteren Abenteuern aufzutreten.

J.Q.   —   18. Jan. 2021


Josef Quack

Über den "Wildtöter"


Welches ist der beste Lederstrumpf-Roman? Diese Frage wird oft gestellt, sie ist unvermeidlich. Das Merkwürdige ist jedoch, daß jeder der fünf Romane seine Fürsprecher gefunden hat, die ihn vor den anderen Romanen bevorzugen – was natürlich für die unbezweifelbare Güte dieser Dichtungen spricht.

Der letzte Mohikaner hat wohl über die Jahrzehnte hin die meisten Leser gehabt, rangiert also in der Gunst des Publikums an erster Stelle. Dies erklärt sich wohl daraus, daß er der dramatischste und abenteuerreichste Roman der Serie ist und den suggestivsten Titel hat. Außerdem handelt er von einem entscheidenden Ereignis des Französisch-indianischen Krieges, dem amerikanischen Pendant zum Siebenjährigen Krieg in Europa.

Für die Ansiedler hat sich Arno Schmidt – und mit ihm andere Feinschmecker der Literatur - unbedingt ausgesprochen, weil das Buch die wirklichkeitsgetreue Zustandsbeschreibung einer klein-bunten Siedlung am Rande der Wildnis ist und die Menschheitsgestalt des Lederstrumpf einführt, den Konflikt zwischen Naturtreue und Zivilisation beschreibend.

Die Exempla classica, eine verdienstvolle, bis heute einzigartig gebliebene Taschenbuch-Reihe der sechziger Jahre mit Werken des literarischen Kanons, haben die Prärie in ihr Programm aufgenommen, jenen Roman, der die letzten Abenteuer des Lederstrumpf im äußersten Westen und seine Begegnung mit dem unvergeßlichen Squatter Ismael Busch schildert, einer Gestalt, die wie Natty, aber aus anderen Gründen, außerhalb der bürgerlichen Gesetze steht.

Auch der Pfadfinder wurde bewundert, weil der Roman eine lange Strecke auf dem Ontario spielt und zudem Abenteuer der Wälder beschreibt. Er vereint in großartigen Schilderungen die beiden literarischen Domänen, die Cooper recht eigentlich begründet hat: den Seeroman und den Roman der westlichen Wildnis, den Roman der Indianer.

Das höchste Lob aber konnte der Wildtöter, The Deerslayer or The First War Path, (Der Hirschtöter oder der erste Kriegspfad), das von Cooper zuletzt geschriebene Buch der Serie, das Nattys erstes Abenteuer erzählt, einheimsen und zwar in einer hymnischen Besprechung von D.H. Lawrence.

Darin ist, durchaus zutreffend und glaubwürdig, von Nattys lebenslanger Einsamkeit und seinem furchtlosem Stoizismus die Rede und von der einzigen menschlichen Beziehung, die er je eingegangen ist, seiner Freundschaft mit dem Indianer Chingachgook. Wenn Lawrence schließlich jedoch in dem Lederstrumpf-Roman den „wahren Mythos Amerikas“, den Mythos seiner Verjüngung, ausgedrückt und gestaltet findet, versteigt er sich in eine wolkige Höhe der Allegorie, wohin ich ihm nicht folgen kann. Die Geschichte des Landes zeichnet sich ja ganz gewiß nicht durch die Freundschaft mit den Ureinwohnern aus.

Mir gefällt das Buch aus zwei Gründen: wegen der meisterhaften, trotz Stifter unerreichten anschaulichen und intensiven Naturbeschreibung, die Cooper selbst treffend gerne als Gemälde bezeichnet. Er malt ein Bild des Glimmerglass, eines noch weitgehend unberührten Sees inmitten der Wälder.

Zweitens gefällt mir das Buch, weil es die zur Reife gelangte Weltanschauung Nattys ausbreitet, welches Verb wörtlich zu nehmen ist, erfolgt die Vorstellung dieser Lebensansicht doch in langen, langen Gesprächen.

Die Beschreibung ist deshalb merkwürdig, weil sie innerhalb der Romanwelt die Einstellung des jungen Helden wiedergibt, in Wirklichkeit aber das Resümee der Lebenserfahrung Nattys enthält, das Cooper erst in dem letzten Roman der Serie ziehen konnte. Natty wird von Anfang an eine Lebensweisheit zugeschrieben, die er erst am Ende seines Lebens hätte gewinnen können. Ich sehe in diesem Umstand einen durchaus zulässigen Fall der dichterischen Freiheit.

Ein Hauptpunkt der Lebenseinstellung Nattys ist aber seine Auffassung der menschlichen Gaben und der menschlichen Natur. Die schöne Judith, die Pflegetochter des alten, zwielichtigen Hutter, der auf dem See ein kleines Kastell errichtet hat, fragt Natty: „In was unterscheidet sich eine Gabe von einer Natur? Ist nicht die Natur selbst eine Gabe von Gott?“

„Gewiß, das ist rasch gedacht und beifallswürdig, Judith, obwohl die Hauptsache falsch ist. Eine Natur ist die Kreatur selbst, ihre Wünsche, Bedürfnisse, Ideen und Gefühle, wie das alles mit ihr geboren ist. Diese Natur kann sich nie verändern in der Hauptsache, obgleich sie einige Zunahme oder Abnahme erleiden mag. Gaben aber kommen von den Umständen und Verhältnissen. So, wenn Ihr einen Mann in eine Stadt setzt, so bekommt er Stadtgaben; wenn in eine Ansiedlung, Ansiedlungsgaben; in einen Wald, Waldgaben. Ein Soldat Soldatengaben … Diese alle wachsen und verstärken sich, bis sie sozusagen die Natur befestigen und tausend Handlungen und Ideen zur Entschuldigung dienen.“

Diese Unterscheidung dient nicht zuletzt dazu, die so ganz anders gearteten Sitten und Gebräuche der Indianer in Krieg und Frieden, ihr Ehrenstandpunkt, ihre Skalpjagd, ihre Vorstellung vom Jenseits, zu erklären und zu verstehen. Sie bildet einen immerhin diskutablen Ansatz der Toleranz in weltanschaulichen oder religiösen Fragen. Cooper liebt die abschweifenden und wiederholenden Gespräche über solche Fragen, deren einfache Diktion leicht darüber hinwegtäuschen kann, daß der Autor durchaus sachkundig ist. Natty beruft sich meist auf eine einfache Glaubenslehre, er kennt die Doktrin der Mährischen Brüdern, ohne ihr beizupflichten, während Cooper an entscheidender Stelle von einem „religiösen Abhängigkeitsgefühl“ spricht und damit die von Schleiermacher stammende Definition der Religiosität wiedergibt.

Das reinste Christentum sieht er aber in Hetty, einem schwachsinnigen Mädchen, verkörpert, einem kindlichen Gemüt und reinen Menschen ohne Arglist, der seinem Wesen gemäß praktisch nichts Unrechtes tun kann. Damit will Cooper zweifellos auch sagen, daß schwere moralische Fehler nur ein Mensch mit voll ausgebildetem Verstand machen kann. Eine Idee, die durchaus zu weiterem Nachdenken anregen kann.

Die zitierte Unterredung mit Judith ist aber für Natty wegen einer anderen Sache vielleicht noch wichtiger, mindestens aber gleich wichtig wie jene Reflexionen, eine handfeste Sache, die gewissermaßen ein irdisches Pendant zu jenem geistigen Thema darstellt. Judith vermacht ihm Killdeer, das berühmte lange Jagdgewehr, das durch ihn berühmt wird und ihn sein Leben lang bekleidet.

Die Kunst der Naturbeschreibung will ich ein andermal untersuchen. Hier will ich nur ein paar eher nebensächliche Formulierungen zitieren, die aber doch auch Coopers eigene Gabe als Schriftsteller schön zum Ausdruck bringen. Von Hutter heißt es nach einem Gespräch mit Hetty, er „fuhr fort zu rauchen mit jenem in die Augen fallenden Phlegma, welches gerade dieser Art von Genuß eigen zu sein scheint.“

Und Natty, der nüchterne Sprecher der echten Natur, sagt bei Gelegenheit zu Judith: „Träume sind armselige Wegweiser, wenn man sich über Wirklichkeiten zu entscheiden hat, Judith. Bildet Euch nichts ein, und hofft nichts ihretwegen; obwohl ich schon Häuptlinge gekannt habe, die sie für nützlich hielten.“ Man möchte unwillkürlich hinzufügen, daß auch Freud ein solcher irregeleiteter Häuptling gewesen sein muß.

Cooper erwähnt einmal Geßlers Apfel und zeigt damit, daß ihm Schillers „Wilhelm Tell“ bekannt ist. Seine klassische Bildung kommt aber in den folgenden Worten zum Ausdruck: „Chingachgook winkte mit der Hand – das leichte Tuch, das er trug, über den Kopf ziehend, wie ein Römer seinen Schmerz in seinen Gewändern verbarg“.

Vor allem aber kommt sein humanistisches Wissen in der Krisis der Handlung selbst zum Vorschein. Natty gerät in die Gefangenschaft der feindlichen Huronen, erhält aber auf sein Ehrenwort für einen Tag Urlaub, um seinen Freunden eine Botschaft der Indianer zu bringen. Anschließend muß er zu ihnen zurückkehren, wo ihn zweifellos der Marterpfahl erwartet.

Nun, die Vorlage dieses Motivs ist die sagenhafte Geschichte von Atilius Regulus, dem römischen Konsul und General, der, von den Karthagern gefangen, für eine diplomatische Mission nach Rom geschickt wird und nach der Erledigung seines Auftrags nach Karthago zurückkehrt.

Ihm hat Horaz im dritten Buch seiner Oden ein berühmtes Gedicht gewidmet, mit einer Strophe, die das Verhalten und die Stimmung Nattys getreu wiedergibt:

„atqui sciebat, quae sibi barbarus
tortor pararet; non aliter tamen
dimovit obstantis propinquos
et populum reditus morantem“

(Und wußte doch wohl, was ihm der feindliche Folterer bereithielt. Und doch schob er die Nächsten, die ihn hindern wollten, das Volk, das seine Rückkehr aufzuhalten suchte, zur Seite.)

Über diese Ode und ihre richtige Übersetzung hat Rudyard Kipling dann eine wunderbare Erzählung, in Stalky & Co, geschrieben, das klügste und überzeugendste Plädoyer für die humanistische Schulbildung, das ich kenne.

Der Vergleich indianischer Gestalten mit römischen Helden ist später ein beliebter Topos der Romane über die amerikanischen Ureinwohner geworden. — Soweit ich sehe, scheint aber in der Sekundärliteratur die Analogie zu der römischen Sage von Regulus unbekannt zu sein. Statt dessen kann man in einer amerikanischen Studie über den Roman die folgende haarsträubende Deutung der Ermordung der Indianer durch Weiße lesen. David B. Davis schreibt, das Töten eines Indianers werde als Teil eines Reifeprozesses erlebt: "Eine Eucharistie, die nach dem Opfer des Fleisches und des Blutes des Roten Mannes dem Weißen Mann weltliche Freiheit und Reichtum gewähre" (Amerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts. Hg. G. Hoffmann. Frankfurt 1971, S.88). Eine pseudoreligiöse, rassistische Phantasie über den wilden Westen, die mit Vernunft und Wissenschaft nichts zu tun hat. Eine selten dumme Literaturinterpretation, die einer der schönsten Romane der Weltliteratur ganz gewiß nicht verdient hat.

J.Q.   —   25. Jan. 2021


Josef Quack

Den "Pfadfinder" bewundernd


Die Geschichte des Pfadfinders enthält einige Glanzlichter der Naturansicht, die sich dem Gedächtnis für immer einprägen. Da wird zunächst ein gewaltiger, tückischer Sturm auf dem Ontario-See geschildert und dann werden einige Stromschnellen auf dem Oswego beschrieben, die es mit einem leichten Rindenkahn zu überwinden gilt. In diese Szenerie versetzt Cooper einen Seemann der Weltmeere, der in seinem penetranten, aus jedem Satz sprechenden Hochmut die Binnengewässer gründlich verachtet und die Binnenschiffer nicht als Seinesgleichen und Seeleute anerkennen kann. Es zeigt sich, daß er die Fahrt über die Stromschnellen nur gegen seinen Willen, um seine Angst nicht zu zeigen, mitmacht. Als ihm auf dem Ontario das Kommando über einen Kutter übertragen wird, erweist er sich als unfähig, das Schiff vor dem Untergang in der schweren Brandung zu retten.

Cooper beschreibt diese Zustände und Ereignisse aus eigener Erfahrung, hat er doch als Seemann sowohl den Atlantik befahren als auch den Ontario. Er kennt die Segelschiffe, ihre Ausrüstung, ihre Fahreigenschaften wie nur ein gelernter Seemann und er versteht es, seine Kenntnisse weiterzugeben in der grandiosen Schilderung eines gefährlichen Aufstandes der Natur. Allerdings muß man zugeben, daß man seine Erzählung mit den Fachausdrücken der Segelschiffahrt nur deshalb verstehen kann, weil der Ausgabe der Inseltaschenbücher ein Glossar der Seemannssprache beigegeben ist. Es enthält Wörter, die der Duden nicht kennt.

Es braucht nicht betont zu werden, daß Cooper die Naturgewalt des Seesturmes mit den feinsten Mitteln seiner Kunst vergegenwärtigt, die, wenn ein Vergleich mit deutscher Dichtung erlaubt ist, an Döblins Stil erinnert (cf. J.Q. Döblins Hamlet, S.158.). Der folgende Passus ist ein literarisches Seestück von kaum zu übertreffender Güte, wie man es selten liest:

„Es war eine der Szenen, deren Großartigkeit noch insbesondere durch den Reiz des Malerischen gehoben wird. Das Wüten des Sturmes war so anhaltend, daß man sich zu der Vermutung geneigt fühlen konnte, es gehöre zu dem beständigen Charakter dieser Gegend. Das Brüllen des Windes tobte in einem fort und das empörte Wasser begleitete diese gewaltigen, dumpfen Töne mit seinem gischenden Schaum, der drohenden Brandung und den steigenden Wogen. Der leichte Regen ließ dem Auge alles wie in einem dünnen Nebel erscheinen, welcher die Bilder sanfter machte und einen geheimnisvollen Schleier darüber warf, während die erhebenden Gefühle, welche ein Seesturm leicht zu erregen imstande ist, die milderen Eindrücke des Augenblicks steigerten. Der dunkle unabsehbare Wald erhob sich großartig düster und ergreifend aus dem Nebelgrau, während die einsamen, eigentümlichen Bilder des Lebens, welche man in dem Fort entdecken konnte, dem Auge einen Ruhepunkt boten, wenn die schrofferen Züge der Natur es erdrücken wollten.“

Die Beschreibung rechtfertigt auf das schönste die Rede von „Cooper of the woods and waves“. Die Worte hat Robert L. Stevenson in seinem Gedicht „If sailor tales to sailer tunes ...“ geprägt.

Wenn man den Pfadfinder gelesen hat, versteht man auch, daß Joseph Conrad, der andere Großmeister des Seeromans, Cooper so sehr bewundert und zu seinem Vorbild gewählt hat. Doch hat unser Roman Conrad noch in einem anderen Punkt beeindruckt, nämlich in der Schilderung des französischen Kapitäns, der die feindlichen Indianer anführt, Sanglier (Keiler) oder Kieselherz genannt, wegen seiner unerschütterlichen Kaltblütigkeit. Diese Figur, seine lakonische, untertreibende, verächtliche Redeweise, hat sichtlich bei Conrad Pate gestanden, als er in Lord Jim den Offizier des französischen Schiffes charakterisierte, das jenen Unglücksdampfer abschleppte, den Jim zu früh aufgegeben und verlassen hatte.

Daß aber beide Autoren dieselbe Geistesart haben, erkennt man an Coopers Aussage über das Erhabene, die der kosmischen Aussicht, einem Leitmotiv bei Conrad, entspricht. Cooper leitet den Roman mit folgenden Worten ein: „Es tritt jedem Auge nahe, in welch enger Verbindung das Erhabene mit dem Unermeßlichen steht. Die tiefsten, die umfassendsten und vielleicht die reinsten Gedanken erfüllen die Phantasie des Dichters, wenn er in die Weiten eines unbegrenzten Raumes schaut. Selten erblickt man zum erstenmal die endlose Fläche des Ozeans mit Gleichgültigkeit.“

Es gehört nun zum humoristischen Aspekt des Romans, daß der Seemann der Meere, der auf seinen Beruf so stolz ist, von etwas beschränkten Geistes ist. Ein Mann der Handelsmarine, behauptet er allen Ernstes, daß „die menschliche Natur für den Zweck des Handels erfunden worden sei“, eine Doktrin der alles umfassenden Nützlichkeit auf niedrigstem Niveau.

Lederstrumpf aber fällt im Pfadfinder die ihm durchaus fremde Rolle eines voreiligen, unkundigen, unbeholfenen Freiers zu, auch dies ein humoristisches Moment. Während er als Zwanzigjähriger im Wildtöter den Wunsch der schönen Judith, ihr Mann zu werden, standhaft zurückgewiesen hat, ist er als Vierzigjähriger nun der Mann, der der jungen Mabel, der Tochter des Sergeanten, der den Streifzug leitet, einen Antrag macht und sozusagen natürlicherweise zurückgewiesen wird. Die Dialoge zwischen ihm und Mabel zeichnen sich durch eine Sprache der Empfindsamkeit aus, die daran erinnert, daß Cooper nur wenige Jahrzehnte nach jener Epoche der Empfindsamkeit geschrieben hat. Außerdem erkennt man in diesem Stil, der Gefühlsdinge so ausschweifend beschreibt, wie er erotische Beziehungen zurückhaltend und nur andeutend schildert, den bestimmenden Einfluß der christlichen Moral, die durchaus streng puritanisch ausgerichtet war.

Außergewöhnlich für Coopers Verhältnisse sind hier jedoch die literarischen und historischen Anspielungen, die sowohl Mabel als auch der verräterische Quartiermeister gerne verwenden. Sie sprechen von Xenophon, Jeanne d‘Arc, Sancho Pansa. Die Verweise zeigen die unüberwindliche kulturelle Kluft, die zwischen dem gebildeten Mädchen und dem schlichten Waldbewohner besteht. „Hier stehe ich, ein Mann der Wälder und von wenig Wissen“, sagt der Pfadfinder in dem entscheidenden Gespräch mit Mabel. Freilich glaubt er geistig doch der gebildeten Zivilisation überlegen zu sein. Er meint, wenn er Mabel heirate, werde er von seinen „Wanderzügen etwas ablassen und den Versuch machen, meinen Geist für Weib und Kind herabzuhumanisieren“.

Damit wird die Gestalt des Helden um eine weiteren Zug bereichert, mit dem Ergebnis, daß er zwar eine ideale Figur der Dichtung, aber doch nicht ungebührlich idealisiert ist. Sein Vorurteil und Ressentiment gegenüber den Irokesen, wohl seine größte Schwäche, ist ein ständig wiederholtes Leitmotiv der Romanserie. Mit den folgenden Worten, die in dem an zweitletzter Stelle, 1840, geschriebenen Roman stehen, zeichnet Cooper das endgültige oder sozusagen authentische Porträt des Lederstrumpf:

„In der Tat kannten nur wenige den Pfadfinder genauer, ohne ihn insgeheim für einen Mann von außerordentlichen Eigenschaften zu halten. Immer derselbe, einfach, redlich, furchtlos und doch klug, zumal bei Unternehmungen, welche in der Meinung des Tages als gerechtfertigt galten, und nie in eine Sache verstrickt, die ihn hätte erröten lassen oder ihm hätte zum Vorwurf gereichen können, war es unmöglich, viel mit einem Wesen umzugehen, das in seiner eigentümlichen Weise als eine Art Adam vor dem Falle – jedoch sicher nicht ohne Sünde – erschien, ohne eine Achtung und Bewunderung gegen dasselbe zu fühlen, welche sich nicht allein auf seine Stellung im Leben bezog.“

Über das kriegerische Abenteuer des Romans, das wiederum von äußerster Spannung ist, will ich nur sagen, daß es zu dem Zwecke inszeniert zu sein scheint, um die Wahrheit über die handelnden Personen zum Vorschein zu bringen, um offenzulegen, wer Verräter und Heuchler und wer ehrlich und treu in den offiziellen und privaten Konflikten der kleinen Gesellschaft ist.

Daß Cooper nicht nur ein Autor der ausführlichen Beschreibung und der umständlichen Aussprache, sondern auch ein Mann der knappen Sentenz ist, beweist das Urteil über die Indianer: „Es war ein eigentümlicher Zug ihrer Großmut, daß sie nie Hand an jene legten, deren Verstand sie verwirrt glaubten.“

Über ein kurzes werden wir den Faden wieder aufgreifen. D.h. Fortsetzung folgt.

J.Q.   —   29. Jan. 2021


Josef Quack

Lob der "Prärie"


Dieser Roman beginnt mit einer Natur-Erscheinung. Ismael Busch, der Squatter, der den Siedlungen den Rücken kehrt, ein großer, kräftiger, eigensinniger, träger Mann, das Gewehr im Arm, eine Axt über der Schulter, trottet vor den Wagen seiner Sippe her über die Prärie in Richtung der untergehenden Sonne. Auf einmal läßt sich in der menschenleeren Landschaft auf der Höhe einer Bodenwelle vor der blendenden Sonne eine riesige Gestalt sehen. Als die Sonne ihre Leuchtkraft verliert, kann man erkennen, daß es sich um einen alten, sehnigen Mann handelt, einen Trapper mit einem überlangen Gewehr, das ist der Lederstrumpf.

Damit begegnen sich zwei Bewohner des weiten Westens, die die Zivilisation aus extrem verschiedenen Gründen meiden. Der Squatter, weil er nur seine eigenen Gesetze anerkennt und sich auf eine Entführung eingelassen hat, der Trapper, weil er, inzwischen ein Greis von 87 Jahren, den Rest seines Lebens in der wilden, von der Verderbtheit der Siedlungen unberührten Natur verbringen will. Lederstrumpf wird hier durchaus auch als Idealgestalt vorgestellt: „Der Mann, von dem ich spreche, war einfachen Sinnes, aber großen Wertes. Unähnlich den meisten von denen, die an der Grenze leben, vereinigte er die besseren Eigenschaften der beiden Völker statt ihrer schlechten. Er hatte von der Natur die seltenste und vielleicht die höchste Gabe erhalten: er konnte das Gute vom Bösen unterscheiden.“ Es werden aber auch wiederum seine Vorurteile erwähnt, um ihn als Menschen zu charakterisieren.

Der Konflikt zwischen den beiden originalen Gestalten macht dann ein wichtiges, bis zuletzt spannendes Moment der Handlung aus, und die Pointe besteht darin, daß der Verächter der bürgerlichen Gesetze am Ende sozusagen aus eigener Machtvollkommenheit als Richter über Leben und Tod auftritt. Er urteilt nach dem Recht der Vergeltung, was in der rechtsfreien, zivilisationsfernen Wildnis durchaus als legitim und nicht als Lynchjustiz betrachtet wird. Freilich haben er und seine Frau sich nicht ganz von den bürgerlichen oder religiösen Gesetzen gelöst. Von Ismael heißt es, „daß seine Ohren niemals willig den Ton einer Kirchturmglocke vernommen“. Esther aber verteidigt ihre Rechte als seine Frau gegenüber einer jungen Indianerin, sie sei ein Weib, „das mehr als eine Kirchenglocke gehört und eine ordentliche Macht gesehn hat“.

Bei der Schilderung dieses urwüchsigen Riesen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Cooper den Squatter mit Eigenschaften ausgestattet hat, die den durchschnittlichen Charakter seiner Landsleute oder seines Landes ausmachen: gewaltige Stärke, unbeirrbarer Eigensinn, intellektuelle Begrenztheit, geistige Trägheit. Es ist neben Lederstrumpf die lebendigste, imposanteste, echteste Menschenfigur seines Werkes, ein Glanzstück seiner Romankunst und einer der Gründe, warum die Prärie nach dem Urteil vieler Kenner als die größte Dichtung der Lederstrumpf-Serie gilt.

Der andere Grund ist die großartige Schilderung der eigentümlichen Landschaft. In den anderen Romanen der Serie beschreibt Cooper überaus getreu Wälder, Flüsse, Seen, Wildtiere, Bewuchs und Bewohner, die er aus eigener Anschauung und Erfahrung genau kennt. In der Prärie schildert er eine Gegend, die wallende Prärie, die Bodenverhältnisse, die kahlen Höhen und die fruchtbaren Gründe der Bodenwellen, Tiere, Pflanzen und Wetterverhältnisse, die er nur aus zweiter Hand kennt. Die Schilderung ist ganz und gar eine Frucht seiner einzigartigen Imaginationskraft und so lebendig und einprägsam, als beschreibe er eine Landschaft, die er selbst gesehen hat. In der Tat, was man sich unter der amerikanischen Prärie vorzustellen hat, hat uns in der Literatur Cooper vermittelt.

Auch hat er zwei Naturereignisse beschrieben, die dann zum Vorbild unzähliger ähnlicher Schilderungen in der Literatur des Wilden Westens wurden: den Ansturm einer riesigen Büffelherde und einen Präriebrand, samt der Geschicklichkeit, diese Abenteuer zu überleben. Zu bewundern ist vor allem die genaue Beschreibung der heranstürmenden Büffelherde, „ein furchtbar-schöner und großer Anblick“ und bald ein Moment höchster Gefahr für die Gruppe der Abenteurer, ein einzigartiges Naturgemälde Coopers:

„Die ganze Zeit über, da die Begebenheiten vorfielen, die wir uns zu berichten zur Pflicht gemacht, war die Prärie nicht aus dem majestätischen Zustand der Einsamkeit und Unbeweglichkeit getreten. Nur die ziehenden Vögelheere hatten die Luft durchschnitten und verfinstert … Jetzt aber, als sollte von einem Äußersten zum andern übergegangen werden, stellte sich ein Drang und Treiben tierischen Lebens ein, welche dem Schauplatz eine ganz neue Gestalt gaben.
Anfänglich wurden einige wenige ungeheure Bisonbullen bemerkt, welche die entfernteste Präriewelle herabstreiften. Bald folgten in langen Reihen, einzeln hintereinander, Büffel nach, und diesen zunächst rollte eine dichte Masse die Anhöhe herab und barg die dürre Grasnarbe unter der dunklen Decke ihrer zottigen Haarfelle. Die Herde, sich wie eine gedrängte Kolonne bewegend, immer breiter und dichter erscheinend, glich den endlosen Scharen kleinerer Vögel, deren ausgedehnte Züge so oft gesehen werden, wie sie aus den Tiefen und Rändern des Horizontes wie aus Abgründen emporsteigen, bis sie zahllos wie die Blätter der Wälder, über welche sie fortschweben, daher- und vorüberrauschen. Staubwolken schossen in kleinen Säulen aus dem Mittelpunkt der Herde empor, je nachdem eines der Tiere, wütender als die anderen, den Boden mit den Hörnern aufwühlte, und von Zeit zu Zeit führte der Wind ein tiefes, hohles Gebrüll herbei, als würde aus tausend Schlünden ein unharmonisches Gemurmel angestimmt.“

Der Roman spielt im Jahre 1804, ein Jahr, nachdem die Vereinigten Staaten von Frankreich Louisiana gekauft hatten, ein riesiger Landstrich, der nicht nur den späteren Staat Louisiana umfaßt, sondern die ganze Region zwischen dem Mississippi und den Rocky Mountains, vom Golf von Mexiko bis zur Grenze von Kanada. Darauf kommt im Roman einmal die bedeutsame Rede, die wiederum eine ausgeprägte Eigenschaft Coopers zeigt, sein Rechtsbewußtsein, sein Sinn für Gerechtigkeit. Er weist auf den Hauptmakel jenes völkerrechtlichen Vertrags hin, daß nämlich die Ureinwohner der Länder nicht gefragt wurden. Als der Trapper den Vertrag erwähnt, will ein Indianer wissen: „Und wo waren die Häuptlinge der Pawnee-Loups, als dieser Handel abgemacht wurde? Wird eine Nation verkauft und gekauft wie ein Biberfell?“ Darauf der Trapper: „Wo waren wohl damals Treue und Redlichkeit? Aber Gewalt geht vor Recht, Gewalt wird zum Recht, sagen die Mordgesetze der Welt; und was der Starke und Gewaltige tut, muß nun einmal der Schwache Gerechtigkeit nennen.“

Hier wäre daran zu erinnern, daß die Prärie 1827 erschienen ist. Drei Jahre später, 1830, aber werden die Indianer durch das berüchtigte Indianer-Aussiedlungs-Gesetz aller staatsbürgerlichen Rechte ausdrücklich beraubt. Der Kernsatz des unter Präsident Andrew Jackson vom amerikanischen Kongreß erlassenen Gesetzes lautet: „Durch dieses Gesetz hebt die Legislatur alle Rechte, Privilegien, Freiheiten und Bürgerrechte, die jene Personen, die sich Indianer nennen, besitzen, beanspruchen oder deren sie sich erfreuen […] innerhalb der verfassungsmäßigen Grenzen dieses Staatenbundes auf.“

Zu diesem skandalösen Gesetz hat man mit Recht gesagt, es habe „nicht seinesgleichen in den Gesetzestexten der gesamten Menschheitsgeschichte“ (J.Hembus, Western-Geschichte 1981, 80). Erst nach dem Ersten Weltkrieg, als die meisten ausgerottet waren, wurden die Indianer als Bürger der Vereinigten Staaten anerkannt. Dies sollte man wissen, wenn man sich die in der überwiegenden Mehrheit fragwürdigen, historisch verfälschten Indianerfilme Hollywoods anschaut.

Cooper aber kommt das Verdienst zu, daß er sich bemüht, ein zutreffendes, gerechtes und wahres Bild von den indianischen Bewohnern des Landes, den „rechtmäßigen Eigentümern“, zu zeichnen. Er beschreibt ihre Eigenarten, ohne ihre Schwächen zu beschönigen. In diesem Roman kommt es zu dem überraschenden Ereignis, daß ein Stamm der Sioux die Sippe des Squatters nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, gänzlich ausraubt, sondern sich mit ihr verbündet, während der erwähnte Häuptling der Pawnees auf der Seite des Trappers und seiner Gefährten kämpft – eine recht gemischte Konstellation von Freunden und Feinden, die Ursache todernster Streitereien.

Inmitten der Abenteuer, Fluchten und Gefahren bilden die Gespräche Nattys mit dem skurrilen Mediziner, Naturforscher und Akademiemitglied Obed Batt einen amüsanten Ruhepunkt. Am Lagerfeuer bei den Nachtwachen tauschen der Gelehrte und der Mann der Wildnis, jeder auf seiner Ansicht starrsinnig beharrend, ihre unvereinbaren Gedanken aus, Jargon der Wissenschaft kontra gesunder Menschenverstand, der sprachliche und intellektuelle Kontrast eine Quelle schönsten Humors. Obed verteidigt den zivilisatorischen Fortschritt, der Trapper die unberührte Wildnis der Natur, wobei es im Grunde vor allem um den Gegensatz von Alter Welt und Neuer Welt geht, aus Nattys und offensichtlich auch aus Coopers Sicht um die Verteidigung Amerikas gegenüber der überlegenen traditionsreichen Kultur Europas.

Der Erzähler rühmt in eigenem Namen die Vorzüge der amerikanischen Republik gegenüber den Monarchien der alten Welt, und nebenbei beschreibt er die Aufgabe des literarischen Erzählers gegenüber der Aufgabe des Historikers und Politikers. Die ureigene Aufgabe des Erzählers ist es, die konkreten Ereignisse individueller Menschen anschaulich zu beschreiben.

Der Naturforscher aber korrigiert einen verbreiteten Fehler der tierischen Benennung. Er erklärt, daß es sich bei dem amerikanischen Rind, das gemeinhin Büffel genannt wird, in Wirklichkeit, wie die zoologische Wissenschaft herausgefunden hat, um ein Bison handelt.

Im deutschen Text wäre ein ähnlicher Fehler zu verbessern. Es ist da von Bussarden die Rede, die über Aas kreisen, wo es sich tatsächlich um Geier handelt. Der Übersetzer war kein Vogelkundler und hat auch nicht im Lexikon nachgeschlagen, wo vermerkt ist, daß „buzzard“ sowohl Bussard als auch Geier, Truthahngeier, heißen kann. Der Fehler ist in englischen Übersetzungen nicht selten.

J.Q.   —   7. Feb. 2021

©J.Quack


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