Josef Quack

Von Giganten, Monstern und Durchschnittsmenschen
Probleme der biographischen Geschichtsschreibung


 


Der Meister sprach: Yu, soll ich dich lehren, was Wissen ist? Was man weiß, als Wissen, und was man nicht weiß, als Nichtwissen anzusehen – das ist Wissen.

Konfuzius

Die „Geschichte“ hat keine Identität, keine Persönlichkeit, also auch keine Dämonie. Sie ist ein bloßer Sammelname für das, was unzählbar viele Menschen treiben.

G. Mann

I. Für wen schreiben sie?
II. Stil
III. Vergleiche
IV. Erklärungen
V. Urteile
VI. Prinzipielle Bemerkungen
Literatur

Im Mittelpunkt der folgenden Anmerkungen steht das Gesicht des Jahrhunderts von Hans-Peter Schwarz. Es ist die seltsamste historische Arbeit, die mir je unter die Augen gekommen ist: das überaus ambitionierte Werk eines Großmeisters der Zunft, das die führenden politischen Akteure des 20. Jahrhunderts vorzustellen und ihre politische Leistung zu bewerten unternimmt — und auf weite Strecken schlicht enttäuscht, gelegentlich sogar auf Illustriertenniveau absinkt. Eine Studie, die die Methode des historischen Vergleichs bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit anwendet, so daß sich als wichtigste Lehre aus diesem biographischen Kompendium die Lehre ergibt, die vergleichende Methode möglichst zu vermeiden.
Merkwürdig ist auch, daß dieses Werk schon heute, nach einem Abstand von noch nicht mal zwanzig Jahren, in gewisser Hinsicht veraltet ist. Der Autor orientiert sich in seinem Urteil wie selbstverständlich an der damaligen Doktrin, die unter ökonomischen Reformen nichts anderes als Sozialabbau und Deregulierung des Marktes verstand, also die Entfesselung des Kapitalismus, dessen Folgen heute sich jeder vernünftigen Kontrolle zu entziehen scheinen. Während dieses Buch also schon selbst historisch geworden ist, hat zum Beispiel das Werk von S. Huntington über den Kampf der Kulturen bis heute seine Aktualität bewahrt; ja, wir erkennen erst heute, welche Tragweite seine These eigentlich hat (cf. J.Q., Rez.).
Ich schreibe diese Anmerkungen aus zwei Gründen: einmal, um die Meinung über einige politische Gestalten des letzten Jahrhunderts zu berichtigen, hauptsächlich aber, um Klarheit über die Leistungsfähigkeit und die Grenzen der biographischen Geschichtsschreibung zu gewinnen. Um die wichtigste methodologische Einsicht vorwegzunehmen, sei darauf aufmerksam gemacht, daß die individualistische Methode der Erklärung nicht ohne weiteres dasselbe ist wie die psychologische Erklärung, die die Biographen gewöhnlich bevorzugen.

I. Für wen schreiben sie?

Joachim Fest und Sebastian Haffner sind Publizisten, sie schreiben für die breite kulturelle Öffentlichkeit, für eine gebildete Leserschaft mit historischem Interesse. Das gleiche gilt auch für Golo Mann. Lothar Gall und Christian Meier sind Geschichtsprofessoren, sie schreiben offensichtlich in erster Linie für das Fachpublikum der Historiker und erst in zweiter Linie für historisch interessierte Laien.
Für wen aber schreibt Hans-Peter Schwarz? Das ist schwer zu entscheiden. Er schreibt für Leser, die wissen, was mit der Daily-Telegraph-Affäre Wilhelms II., was mit dem Vorstoß MacArthurs zum Yalu, dem Nero-Befehl Hitlers, der Berlin-Krise, dem Panama-Skandal und hundert anderen Ereignissen gemeint ist; worum es im russisch-japanischen Krieg, dem Massaker in Shanghai, der Konferenz von Teheran, dem New Deal, der Great Debate ging, was es mit diversen politischen Beziehungen und Konflikten auf sich hat. Der Leser muß darüber informiert sein, warum Hitler den Bischof Graf Galen töten lassen wollte und was Kardinal Faulhaber, ein früher Kritiker des Rassismus, auf dem Obersalzberg bei Hitler zu suchen hatte — von dem Autor erfährt er es nicht. Andererseits schreibt der Autor für Leser, die Berichte über das amouröse Verhalten der Unholde, mag es politisch relevant sein oder nicht, zu goutieren wissen. Er scheint also für Akademiker zu schreiben, die den Großen Ploetz auswendig kennen und zugleich ein Faible für die Boulevard-Presse mit ihren Skandalgeschichten haben.

II. Stil

Dieser Intention entspricht durchaus der saloppe, wissenschaftliche Begriffe und feuilletonistische Ausdrücke unbekümmert mischende Stil, der in auffallendem Gegensatz zur souveränen Stilsicherheit der gebildeten Publizisten steht. Joachim Fest ist ein Meister des Understatements, berühmt geworden ist eine rhetorische Figur der Untertreibung, die wohl einzigartig ist und weitaus stärker zum Denken anregt als jede superlativische Verdammung: er spricht Hitler die historische Größe ab, weil er nun mal „ein unangenehmer Mensch“ gewesen sei (Fest 1973, 20). Nicht weniger eindrucksvoll ist die nüchterne juristische Feststellung Haffners über Hitler: „Er war ganz einfach auch ein Massenmörder“ (Haffner 2003, 142).
Schwarz dagegen liebt die hyperbolische Redefigur, die superlativische Charakteristik und das journalistische Modewort. In seinem Buch begegnen wir Monstern und Ungeheuern, Bestien und politischen Gangstern, Ikonen der Revolution, dem Dschungel der Gesellschaft, der Mediengeilheit und dem Ego-Trip, dem Gully der Geschichte, der an die Kanalratte erinnert, den Schimpfname, mit dem Alfred Andersch Hitler bezeichnete. Wir lesen aparte Wendungen wie „ressentieren“ und ältliche Formulierungen wie „obsiegen“.
Wir begegnen stilistischen Fehlgriffen, die irreführend und unverzeihlich sind, so wenn er Jacob Burckhardt wegen seiner Vorliebe für historische Prognosen einen „Spökenkieker“ nennt oder das negativ besetzte Wort „Schreibtischtäter“ in einem positiven Sinn verwendet. Sinnwidrig und absolut unpassend ist der Gebrauch der Formulierung, man habe der „großen Klappe“ Hitlers geglaubt (309). Die Redewendung lautet: große Klappe, aber nichts dahinter. Ebendies war aber gerade bei Hitler nicht der Fall. Wie Karl Kraus bemerkt hat, machte Hitler die Phrasen durch seine Taten wahr (cf. J.Q., Zum Sprachverständnis von Karl Kraus).

III. Vergleiche

Ich möchte nicht bestreiten, daß der Vergleich einer politischen Figur mit anderen politischen Akteuren ein wichtiges Instrument der geschichtlichen Erkenntnis ist. Doch möchte ich festhalten, daß Schwarz dieses in Grenzen nützliche und an sich untadelige Steckenpferd zu Tode geritten hat. Schon Nietzsche hat die Historiker eindringlich vor der Täuschung durch Analogien gewarnt. Dieser Täuschung ist Schwarz allzu oft erlegen. Nicht wenige seiner historischen Vergleiche gehören in jenes Reich, das vom Nonsens und nicht vom Verstand beherrscht wird.
Aus der Überfülle von falschen Analogien seien einige wenige herausgegriffen. Nichtssagend ist die Beobachtung: „Ähnlich wie Mao, Mussolini, Stalin oder Hitler ist offenbar auch Tschiang Kai-schek in seiner Jugend durch exzentrisches Einzelgängertum aufgefallen“ (176). Der Satz wäre nur dann informativ, wenn der Autor nachgewiesen hätte, daß demokratische Politiker in der Regel keine Einzelgänger gewesen seien. Geradezu abstrus ist die angeblich aufschlußreiche Analogie, daß die großen Tyrannen sich auf zwei wichtige Potenzen des 19. Jahrhunderts berufen hätten, nämlich Karl Marx und Richard Wagner! (196) Ohne den mindesten Erkenntnisgewinn ist die Beobachtung, daß Lenin und Hitler Beamten zu Vätern hatten (294). Daß Hitler damit einverstanden war, mit dem Propheten Mohammed verglichen zu werden, nimmt Schwarz tatsächlich als Beleg für die unhaltbare These, daß Hitler selbst ein Prophet oder eine Art Religionsgründer gewesen sei (309), ohne den geringsten Zweifel zu zeigen an dem propagandistischen Scheincharakter dieser Rolle des Nihilisten und „chemisch reinen Atheisten“ Hitler, wie Golo Mann ihn genannt hat.
Was lernt man denn über Hitler, wenn man erfährt, daß auch der Schwedenkönig Karl XII. sich wie er „in den Weiten“ Rußlands verloren habe (325)? Absolut nichts, es sei denn die Marotte, daß der Autor auch die entfernteste Ähnlichkeit heranzieht, um sein Objekt zu beschreiben. Mich wundert, daß er hier nicht auch die Hundeliebhaber und Vegetarier unter den Politikern erwähnt hat.
Natürlich vergleicht er Hitler auch mit Napoleon und er ist durchaus auch bemüht, die Unterschiede zwischen den beiden Politikern nicht zu unterschlagen. Dennoch ist dieser Vergleich im einzelnen nicht besonders aussagekräftig und selten überhaupt plausibel. Hitler hat sich im Zweiten Weltkrieg vom Geschehen an der Front entfernt gehalten. Dem entspreche, daß Napoleon sich 1812 im russischen Winter und dann nach den verlorenen Kriegen 1814 und 1815 „davongemacht“ habe (317). Der gelehrte Historiker bedenkt nicht, daß es in bestimmten Situationen die Pflicht eines Feldherrn sein kann, sich in Sicherheit zu bringen — um nämlich den Kampf später wieder aufnehmen zu können. Dies aber war bekanntlich der Fall Napoleons 1812 und 1814.
Das berühmteste Beispiel eines Feldherrn, der es aus einem falschen Ehrbegriff heraus verschmähte, in einer derartigen Situation zu fliehen, gab Vercingetorix nach der Niederlage von Alesia 52 v. Chr. Dazu schreibt Theodor Mommsen: „Das ganze Altertum kennt keinen ritterlicheren Mann in seinem innersten Wesen wie in seiner äußeren Erscheinung. Aber der Mensch soll kein Ritter sein und am wenigsten der Staatsmann. Es war der Ritter, nicht der Held, der es verschmähte, sich aus Alesia zu retten, während doch an ihm allein der Nation mehr gelegen war als an hunderttausend gewöhnlichen tapferen Männern. Es war der Ritter, nicht der Held, der sich da zum Opfer hingab, wo durch dieses Opfer nichts weiter erreicht ward, als daß die Nation sich öffentlich entehrte und ebenso feig wie widersinnig mit ihrem letzten Atemzug ihren weltgeschichtlichen Todeskampf ein Verbrechen gegen ihren Zwingherrn nannte. Wie so ganz anders hat in den gleichen Lagen Hannibal gehandelt!“ (Mommsen 4,283). Ein informativer Vergleich, ein kluges Urteil in einer an römischen Geschichtsschreibern und Schiller geschulten Bildungssprache, wie man es bei Schwarz vergeblich sucht.
Dann vernimmt man mit einigem Staunen, daß Hitler ein „Möchtegerndeutscher“ gewesen sei, „so wie Napoleon ein Möchtegernfranzose und Stalin ein Möchtegernrusse gewesen sei“ (302). Der Autor meint also, das Verhältnis Österreichs zu Deutschland sei von der gleichen Art wie das Verhältnis Georgiens zu Rußland und das Verhältnis Korsikas zu Frankreich — was offensichtlich ein Kategorienfehler ist und ein Fehlurteil, das dem damaligen Selbstverständnis der deutschsprechenden Österreicher nicht entspricht. Denn die Bewohner der österreichischen Stammlande haben sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Deutsche betrachtet, ähnlich wie sich die Bayern oder Sachsen als Deutsche betrachten. Heute verstehen die Österreicher sich zweifellos in der Mehrzahl als eigene Nation.
Der unsinnigste Vergleich, den man hier lesen kann, eine Analogie, die in wesentlicher, nämlich religiöser Hinsicht auf eine Gleichsetzung hinausläuft, ist der Vergleich Khomeinis mit Papst Johannes Paul II. Nichts könnte falscher sein als diese Zusammenstellung, die Schwarz im Kapitel „Comeback der religiösen Führer“ vornimmt. Khomeini hat ein säkulares Regime gestürzt und eine strikt religiöse Herrschaft etabliert, die der Politik keine autonome Sphäre einräumt. Johannes Paul II. stammte aus Polen, einem Land, dessen Katholizismus national geprägt ist; er hat als Kirchenführer zweifellos einen gewissen politisch-ideologischen Beitrag zur Auflösung des kommunistischen Ostblocks geleistet. Dies kann es aber nicht rechtfertigen, die beiden Zeitgenossen dem gleichen Typus zuzuordnen.
Als religiöser Führer im strengen Sinn, als Hüter des katholischen Glaubens und oberste Instanz in Fragen der kirchlichen Verfassung, hat dieser Papst nur eine dürftige Bilanz aufzuweisen. Unter seinem Regiment wurden die klerikalen Mißbrauchsfälle vertuscht und der Niedergang des Christentums eher beschleunigt als verlangsamt. Wer sich über seine pastoralen Fehler und Irrtümer unterrichten will, sei auf Bernhard Häring verwiesen (Häring 1997, 135f.). Hervorragend war allerdings das Auftreten des Papstes als Medienstar und Weltreisender in eigener Sache. Von dieser medialen Selbstinszenierung auf eine religiöse Erstarkung des Papsttums zu schließen, ist ein Fehlschluß, wie er nur von einer liberalen Kulturgeschichte des Christentums gezogen werden kann (Lauster 2014, 521) (cf. J.Q., Rez.).
Übrigens gehört die in diesem Kapitel geäußerte, natürlich falsche Behauptung, Peter Scholl-Latour habe sich von der Gewalt dieser Persönlichkeit, nämlich Khomeinis, zeitweilig in Bann schlagen lassen (651), zu jener Vielzahl von Urteilen, die Schwarz nicht weiter begründet.
Schließlich noch eine Beobachtung, die eher astrologischer als historiographischer Art zu sein scheint. Der Autor glaubt, darin daß Jacob Burckhardt im August 1897 gestorben ist und drei Wochen später im gleichen Monat in Basel der erste Zionistenkongreß stattfand, eine bedeutsame Koinzidenz sehen zu dürfen, die anregt, über Burckhards lückenhafte Prognosen nachzudenken (62). Ein luftiges Gedankengespinst.

IV. Erklärungen

Wiederum möchte ich die Hauptthese von Schwarz, daß in der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts der Faktor der Persönlichkeit eine entscheidende Rolle gespielt habe, nicht bestreiten. Diese These teilt er mit anderen historischen Biographen, etwa Joachim Fest. Gegen dessen Hitler-Buch aber hat Golo Mann zu Recht eingewandt, daß Fest die Zeit- und Weltgeschichte sträflich vernachlässigt; Fest beschreibe immer noch das Privat- und Gemütsleben Hitlers, wo er die politischen Ereignisse und Aktionen hätte in extenso darstellen müssen (Mann 1979, 279f.) Dies ist auch ein Vorwurf, den man gegen das Gesicht des Jahrhunderts vorbringen muß.
Ein geradezu groteskes Beispiel für das falsche personalistische Vorgehen des Autors liefert das Kapitel über Mao Tse-tung. Wir erfahren, daß Mao sich ungern wusch – was aber nicht recht zu der Mitteilung paßt, daß er „luxuriöse Bäder und Swimmingpools“ geschätzt habe (328). Von dem Treffen mit Nixon und Kissinger 1972 erfahren wir, daß Mao dazu „medizinisch gewissermaßen aufgepumpt werden mußte“ (339). Über den politischen Inhalt des Gesprächs erfahren wir aber kein einziges Wort. Dabei kamen hochwichtige Entscheidungen zur Sprache, wie die Versicherung, daß China – anders als im Koreakrieg – nicht in Vietnam militärisch eingreifen werde (Kissinger 2011, 271). Übrigens hat Kissinger die körperliche Verfassung des sterbenskranken, sprachbehinderten Mao bei seinem letzten Gespräch 1975 keineswegs verschwiegen. Dieser Zustand „am Rand des Grabes“ hinderte Mao aber nicht, die politischen Leitlinien seines Landes so energisch wie je zu vertreten (l.c. 317f.) (cf. J.Q., Rez.).
Kaum mehr politische Substanz enthält das Porträt Deng Xiaopings. Merkwürdig ist dabei, daß der auf psychologische Erklärungen geeichte Biograph das wichtigste psychologische Problem in der Karriere dieses chinesischen Staatsmannes nicht einmal zu sehen scheint: die Frage, wie Deng die wiederholte Verfolgung und Demütigung durch seine Genossen ertragen und dann wieder in die aktive Politik wechseln konnte. Erwin Wickert, der Deng mehrfach sprechen und aus der Nähe beobachten konnte, hat diesen Punkt erklärt. Er hat Deng ein Porträt gewidmet, aus dem man mehr über diesen Mann und sein Geschick erfährt als aus den Einlassungen von Schwarz.
Auch macht Wickert auf einen Umstand aufmerksam, den jeder kennen sollte, der sich über die Epoche der kommunistischen Regime verbreitet: „Die Kommunistische Partei Chinas hatte, das unterscheidet sie von anderen regierenden kommunistischen Parteien, einmal das Vertrauen des Volkes in großem Maßstab besessen, nämlich bei der Gründung der Volksrepublik Chinas. Dieses Vertrauen hat sie verloren. Deng Xiaoping gab es zu und sah, daß es erstes Ziel sein müsse, das Vertrauen wiederzugewinnen. Es ist ihm bisher nicht gelungen.“ (Wickert 352f.).
Ein weiterer Erklärungsmangel, den man Schwarz ankreiden muß, besteht darin, daß er sagt, warum die Politiker etwas getan haben, daß er aber nicht genauer sagt, was sie getan haben. Eingangs habe ich dafür eine Menge Beispiele angeführt.

V. Urteile

Eine andere Spezialität des Autors besteht darin, daß er gerne Urteile über das Personal und die Ereignisse der Geschichte abgibt, ohne das Urteil eigentlich zu begründen. Er liebt es, Ranglisten in allen Kategorien der von ihm beschriebenen Politikertypen aufzustellen, von den schlimmsten Ungeheuern, den größten Reformern, Präsidenten, Premierministern, Kanzlern und Außenpolitikern. Diese Rubrizierung ähnelt eher den Beliebtheitsumfragen der Unterhaltungsbranche als der seriösen Geschichtsbetrachtung, und ich möchte darauf nicht näher eingehen.
Hier möchte ich nur auf die Porträts hinweisen, die der Autor den von ihm doch wohl meist überschätzten englischen Politikern widmet. Er bezeichnet Churchill als den „Premierminister des sterbenden Empire“, ohne so genau, wie es nötig wäre, zu erklären, worin die Bedeutung und die Macht dieses Reiches bzw. des Commonwealth tatsächlich bestanden hat. Er meint, Großbritannien habe 1945 allen Grund, sich als „echte Siegermacht“ zu begreifen (482), wo doch evident ist, daß die USA und die Sowjetunion die eigentlichen Siegermächte sind. Er behauptet, England habe sich mit Recht bis in die sechziger Jahre als Weltmacht betrachtet, wo doch jedermann wissen konnte, daß diese Selbsteinschätzung sich spätestens bei der Suez-Krise 1956 als Illusion erwiesen hat. Zu dieser Einsicht sind die englischen Autoren von Polit-Thrillern schon längst gekommen.
Des weiteren, was hat man eigentlich erklärt, wenn man Stalin als einen Politiker charakterisiert, der aus einem sozialen Dschungel stamme? (268) Kann man mit dieser blumigen Metapher das rätselhafte Phänomen dieses Mannes auch nur um einen Grad aufhellen? Auch bleibt der Widerspruch unbemerkt, daß Stalin eine der mißtrauischsten Figuren in dieser Galerie der handelnden Personen des Jahrhunderts ist und dennoch zu lange Hitler vertraut habe (274).
In einer schwammigen Erklärung gibt der Autor zu verstehen, man habe Ronald Reagan geglaubt, daß er bei der Iran-Contra-Affäre nicht in alle Einzelheiten eingeweiht gewesen sei (705). Die Erklärung zeigt, daß der Autor, der diesen Präsidenten doch ein wenig überschätzt, sich über dessen verdeckte Aktionen nicht informiert hat. Bei Bob Woodward, Reagan und die geheimen Kriege der CIA, kann man nachlesen, daß Reagan zwar nicht die operativen Einzelheiten dieser Geheimsache kannte, daß er die Grundzüge und Ziele dieser Aktion aber nicht nur kannte, sondern durch seine Direktiven sogar genehmigt hatte. Bei dieser Aktion verkauften die Amerikaner Waffen an das iranische Regime, um mit dem Erlös aus diesem Geschäft die Contras in ihrem Kampf gegen die Sandinisten in Nicaragua zu unterstützen. Die Waffenlieferungen an den Iran sollten dem sowjetischen Einfluß in dem Lande entgegenwirken. Als Gegenleistung sollte der Iran helfen, die im Libanon gefangen gehaltenen amerikanischen Geiseln freizubekommen — was auch in einigen Fällen gelang. Die Operation verstieß aber gegen die amerikanische Doktrin, niemals mit Terroristen zu verhandeln. Außerdem hätte der Kongreß informiert werden müssen (Woodward 1987, 561ff.).
Merkwürdig ist auch, daß Schwarz eine der beachtlichsten diplomatischen Leistungen Helmut Kohls, den er mit Recht als großen Politiker würdigt, nicht erwähnt. Als Gorbatschow an die Macht kam, hatte Kohl ihn wegen seiner Rhetorik mit Goebbels verglichen; wenige Jahre später revidierte er sein Urteil, und es gelang ihm mittels seiner persönlichen Diplomatie Gorbatschow für sich und seine Deutschlandpolitik einzunehmen. Ein psychologisches Kunststück, wie es in der Diplomatiegeschichte nicht häufig vorkommt.
Wiederholt bezeichnet der Autor das 20. Jahrhundert als das amerikanische Jahrhundert, ohne überzeugende Argumente für dieses Label beibringen zu können, gab es in diesem Säkulum doch viel zu viele Geschehnisse und weltgeschichtlich bedeutsame Akteure, die mit Amerika nichts zu tun hatten oder sich seinem Einfluß entzogen. Außerdem wäre zu monieren, daß der Autor unter dem Gesicht des Jahrhunderts wie selbstverständlich die politischen Gestalten dieser Zeit versteht, während das Gesicht dieser Epoche doch auch tief durch die großen Naturwissenschaftler und Techniker geprägt wurde; auch seine Philosophen sollte man nicht ganz vergessen.
Daß Schwarz übrigens die diplomatischen Meisterstücke Nixons und Kissingers, wo er nur kann, klein redet, ist schlicht irrational.
Der Autor liebt es auch, von Paradoxa zu sprechen, wo weder ein logischer noch ein realer Gegensatz vorliegt.
Doch will ich die wenigen Vorzüge des Gesichts des Jahrhunderts nicht verschweigen. Es enthält auch Porträtskizzen, die unseren politischen Horizont erweitern, so die Essays über Theodore Roosevelt, Mannerheim, Pilsudski, Atatürk und Tito. Zu nennen wären auch durchaus gerechte Würdigungen wie die Porträts de Gaulles und Franklin D. Roosevelts.
Hervorheben sollte man auch das kritische Urteil über die deutschen, französischen und englischen Generäle im Ersten Weltkrieg, die sich eine politische Macht anmaßten, die ihnen an sich nicht zukam. Ähnlich haben sich einige amerikanische Generäle im Vietnam-Krieg aufgeführt.
Beipflichten kann man dem Autor natürlich auch, daß er bei jedem Gewaltherrscher fragt, wie viele tausend Opfer er auf dem Gewissen hat.

VI. Prinzipielle Bemerkungen

Schließlich will ich noch einige Punkte zum prinzipiellen Status der historischen Biographie wenigstens andeuten; sie ausführlich zu besprechen, ist hier aber nicht der Ort.
Die Grundannahme der biographischen Geschichtsdarstellung besagt, daß das politische oder soziale Geschehen in bestimmter Hinsicht von einzelnen Akteuren entscheidend bestimmt oder beeinflußt werden kann. Was immer es sonst noch für Faktoren in der Geschichte geben mag, die politische Persönlichkeit ist ebenfalls ein Faktor der Geschichte.
1. Dazu wäre zunächst zu sagen, daß die historische Biographie im wesentlichen einen „methodologischen Individualismus“ als Erklärungsprinzip verwendet. Man muß mit Popper einen Vorzug in der These sehen, daß es möglich sein müsse, „das Verhalten und die Handlungen von Kollektiven wie Staaten und Sozialgruppen auf das Verhalten und die Handlungen menschlicher Individuen zu reduzieren“ (Popper 1992, 108). Es ist also vernünftig anzunehmen, daß die sozialen und politischen Institutionen geändert werden können, da sie das Ergebnis menschlicher Handlungen sind (l.c. 110).
2. Freilich erliegen die psychologischen Vertreter dieser These einem Irrtum, wenn sie annehmen, daß die „Wahl einer solchen individualistischen Methode die Wahl einer psychologischen Methode nach sich ziehe“ (l.c. 108). Die psychologische Methode ist zwar insofern individualistisch, als sie den Faktor des menschlichen Individuums ins Spiel bringt, doch irren sich die Biographen, die annehmen, die psychologische Methode sei mit der individualistischen Methode schlechthin identisch. Denn es gibt von menschlichen Handlungen Folgen, die nicht beabsichtigt sind und sich deshalb auch nicht auf psychologische Motive zurückführen lassen — darüber gleich mehr. Außerdem gibt es psychologische Begriffe, die eine soziale Komponente haben, und die damit bezeichneten Phänomene lassen sich nur erklären, wenn man die sozialen Bedingungen ihrer Entstehung und Wirkung berücksichtigt — wie zum Beispiel die politisch höchst bedeutsame Machtgier, die sich nur im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen verstehen läßt (l.c. 115).
Was diesen Punkt angeht, so hat Christian Meier in seiner Cäsar-Biographie das antike Ideal des Ruhmes im Rahmen der geltenden Institutionen und Ämterlaufbahn vorzüglich dargestellt, ist doch die Theorie und Praxis der staatlichen Institutionen Roms eines der Hauptthemen seines Werkes. Die große Pointe dieser Studie kommt in der verblüffenden Behauptung zum Ausdruck, Cäsar sei nach all seinen Siegen über seine römischen Gegner zuletzt in dem Punkt aller staatlichen Punkte ratlos gewesen: ratlos, welche Verfassung er dem römischen Staat geben sollte.
Meiers Cäsar-Bild hat wenig mit dem von Mommsen gezeichneten Porträt eins idealen Staatsmanns und vollkommenen Menschen zu tun, was ich natürlich hier nicht genauer besprechen kann. Doch sei erwähnt, daß Mommsen einen informativen, ins Einzelne gehenden Bericht über den gallischen Krieg gibt, während Meier in dieser Hinsicht zu wortkarg ist, auch deshalb, weil er sich doch zu lange bei Organisationsfragen Roms aufhält. Kurzum, ein bißchen weniger Verwaltungsbeschreibung und ein wenig mehr Ereignisgeschichte hätte seiner Biographie gutgetan.
3. Die psychologische Erklärungsmethode ist in bestimmten Grenzen sicher fruchtbar und erhellend, jedoch nur dann, wenn man diese Grenzen beachtet. Hier wäre zuerst auf die Verschwörungstheorie der Gesellschaft hinzuweisen, der die Vertreter des Psychologismus leicht erliegen. Damit ist die These gemeint, daß man ein soziales Phänomen dadurch erklären kann, daß man nachweist, daß bestimmte Menschen ein Ereignis bewußt herbeigeführt haben, weil es in ihrem Interesse lag. Diese These impliziert die Annahme, daß vor allem schlimme Ereignisse wie Krieg, Armut oder Mangel bewußt gewollt und geplant seien (l.c. 112f.). Der Fehler dieser These besteht darin, daß übersehen wird, daß fast alle menschlichen Handlungen unbeabsichtigte und unvorhersehbare Rückwirkungen oder Nebenfolgen haben, und diese zu untersuchen ist die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften, gewiß auch eine Aufgabe der Historie (cf. J.Q., Zum Klischee der Verschwörungstheorie).
4. Eine andere Grenze der psychologischen Erklärung besteht darin, daß sie menschliche Handlungen nur dann durch die Annahme psychischer Bedingungen erklären kann, wenn sie die allgemeine Situation hinreichend berücksichtigt, in der die Handlungen stattfinden (l.c. 106). Wir haben gesehen, daß dies eines der praktischen Hauptprobleme ist, das ein Biograph zu lösen hat, und daß es Schwarz und Fest vielfach nicht gelungen ist, diese Schwierigkeit zu lösen. Dagegen hat Golo Mann in seiner Wallenstein-Biographie diesen Fehler vermieden und neben dem Charakterbild seines Helden auch dessen Kontext, den Dreißigjährigen Krieg, ausführlich beschrieben. Mann ist jedoch einer anderen Versuchung erlegen: er fügte fiktionale Passagen ein, die aus der Perspektive Wallensteins dessen Gedanken wiedergeben — eine große Ungeschicklichkeit.
5. Schließlich verspielen manche Biographen den Vorteil der individualistischen Methode, indem sie auf Hegelsche Kategorien und kollektive Subjekte wie Zeit- oder Weltgeist, Staat und Nation zurückgreifen. Sie nehmen besonders gern dann ihre Zuflucht zum Pathos von Hegels Geschichtsphilosophie, wenn sie die eminente Bedeutung ihrer Helden bestimmen wollen. So steht für Lothar Gall außer Frage, daß Bismarck ein „welthistorisches Individuum“ im Sinne Hegels gewesen sei (Gall 1983, 20), und Joachim Fest bezeichnet Hitler als eine „Vereinigungsfigur vieler Zeittendenzen“, was wohl heißen soll, er sei gleichsam eine Verkörperung des Zeitgeistes gewesen (Fest 1973, 1028). Ich kann die Frage offen lassen, ob diese Anleihen bei Hegel tatsächlich der Intention des Philosophen entsprechen; wichtig ist allein, daß derartige Kategorien mit der individualistischen Methode der Biographie schlecht zu vereinbaren sind.

VII. Literatur

Fest, Joachim C.: Hitler. Eine Biographie. Berlin 1973.
Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt 1983.
Häring, Bernhard: Meine Hoffnung für die Kirche. Freiburg 1997.
Haffner, Sebastian: Anmerkungen zu Hitler (1978). Frankfurt 2003
Kissinger, Henry: China. Zwischen Tradition und Herausforderung. München 2011.
Lauster, Jörg: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums. München 2014.
Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt 1966.
-, Wallenstein. Frankfurt 1972.
-, Zeiten und Figuren. Schriften aus vier Jahrzehnten. Frankfurt 1979.
Meier, Christian: Caesar (1984). München 2004.
Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. München 1984.
Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band II. Tübingen 1992.
Schwarz, Hans-Peter: Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten. Berlin 1998.
Wickert, Erwin: China von innen gesehen. Gütersloh o.J.
Woodward, Bob: Geheimcode Veil. Reagan und die geheimen Kriege der CIA. München 1987.

J.Q. — 3. Juni 2016

©J.Quack


Zum Anfang