Josef Quack

Über literarische Größe




Mediocribus esse poetis
non dii, non homines, non concessere columnae.

Mittelmäßig zu sein, haben den Dichtern
nicht Götter, noch die Menschen und auch nicht die Werbesäulen erlaubt.

Horaz (Ars poetica V372f.

Angeregt oder vielmehr provoziert zu diesen Überlegungen über literarische Größe wurde ich durch das neuere Buch eines Germanisten über literarische Kennerschaft, das substantielle Lücken aufweist und deshalb in Wahrheit ein Buch literarischer Ignoranz ist.

E.T.A Hoffmann, der neben Goethe die europäische Dichtung am stärksten beeinflußt hat, wird nur als Weintrinker erwähnt; Johann Nestroy, der witzigste und geistreichste Komödiendichter deutscher Sprache, wird gar nicht genannt; ebenso wenig Detlev von Liliencron, ein Erneuerer der deutschen Lyrik nach Heine; Stefan George wird nur als Übersetzer Baudelaires erwähnt; Karl Kraus, der einzigartige Polemiker, Satiriker und Aphoristiker, wird überhaupt nicht behandelt.

Besprochen wird auch Alfred Döblin nicht, der produktivste Romancier seiner Zeit. Dagegen wird Günter Grass, der Döblin als seinen Lehrer feierte, ausführlich behandelt. Joseph Roth und Elias Canetti, Meister der deutschen Prosa, werden ignoriert. Gottfried Benn und Friedrich Dürrenmatt werden nur namentlich genannt. Wolfgang Koeppen, von dem der wichtigste politische Roman des Nachkriegs, Das Treibhaus, stammt, kommt hier nicht vor, ebenso wenig Alfred Andersch und Siegfried Lenz.

Merkwürdig an all diesen Fehlleistungen ist, daß der Literaturhistoriker keinen Sinn für die erstaunliche Tatsache zu haben scheint, daß sprachbewußte jüdische Autoren einen großen, überaus fruchtbaren Beitrag zur deutschen Literatur der Moderne geleistet haben. D.h. er hat das Phänomen nicht einmal gesehen.

Der geistige Horizont des Germanisten ist offensichtlich begrenzter, als es in seinem Fach erlaubt sein sollte. Dennoch ist seine Arbeit für uns nicht ganz nutzlos. Sie zeigt uns nämlich, wie man es nicht machen sollte, wie man Literatur nicht beurteilen und bewerten sollte.

Man sieht, daß dem Autor jeder Maßstab der literarischen Wertung fehlt. Dies aber erinnert an den Herausgeber einer Anthologie der deutschen Poesie von den Anfängen bis zur Gegenwart, in der der Dichtung der letzten vierzig Jahre fast ein Drittel der Seiten gewidmet ist. Damit wird für diese Zeit eine Fülle der Talente vorgetäuscht, die einfach nicht vorhanden ist (cf. J.Q., Rückschritte der Poesie S.7.).

Ästhetische Theorie

Die Frage aber bleibt, was wir literarische Größe nennen. Wie kommt der Kanon der Literatur zustande? Wenn rechnen wir einen Autor zu den Klassikern der Dichtung? Sind dies reine Geschmacksfragen, Geschmack als subjektive Wertung verstanden, oder gibt es objektive, intersubjektiv verbindliche Maßstäbe der Beurteilung? Und weiter gefragt: Beruht dieses Urteil auf einem Konsens, einer Absprache, einer Übereinkunft der Literaturkenner, oder gibt es in der Sache liegende Gründe, die allgemeine Geltung beanspruchen?

Ich kann diese kunsttheoretischen Probleme hier natürlich nur in einer groben Skizze behandeln. Ich werde dazu nur einige Anmerkungen machen, gestützt auf meine Lektüreerfahrungen und Einsichten Hans-Georg Gadamers (Wahrheit und Methode, Tübingen 1965) und Überlegungen Franz von Kutscheras (Ästhetik, Berlin 1989).

Subjektive Ansicht

Zunächst wäre zu der Ansicht, daß alle Kunsturteile rein subjektiv, also persönliche Geschmacksurteile seien, zu sagen, daß damit im Grunde behauptet wird, daß die folgenden Aussagen synonym seien: „Dieses Werk ist schön“ und „Dieses Werk gefällt mir“. Nun, es läßt sich leicht zeigen, daß diese Aussagen nicht synonym sind, da mir etwas gefallen kann, was nicht schön ist, und da etwas schön sein kann, was mir nicht gefällt (Kutschera S.140).

Dann ist es sehr interessant, daß ein Vertreter persönlicher Geschmacksurteile dennoch ausdrücklich darauf besteht, daß sie nicht rein subjektiv seien, sondern irgendwie allgemeingültig. Somerset Maugham hat eine Kleine persönliche Geschichte der Weltliteratur (Zürich 2006) verfaßt, in der er Bücher empfiehlt, „die jedermann, der an geistigen Dingen interessiert ist, mit Vergnügen und Gewinn lesen kann“ (l.c. 8). Noch deutlicher behauptet er, daß er „nur von Büchern sprechen konnte, die nach Auffassung aller vernünftigen Menschen Meisterwerke sind“ (l.c.12). Das entscheidende Kriterium seiner Auswahl ist übrigens das Merkmal, ob ein Buch langweilig ist oder nicht. Er setzt dabei wiederum voraus, daß alle vernünftigen Menschen in Sachen der Langeweile der gleichen Ansicht sind.

Erstaunlich an diesen Erklärungen ist, daß sie an einen Gedanken Kants über die Eigenart ästhetischer Urteile erinnern. Kant hatte behauptet, daß ästhetische Urteile eine Allgemeingültigkeit beanspruchen, obwohl sie nicht auf objektiven Begriffen beruhten: „Zuerst muß man sich davon überzeugen: daß man durch das Geschmacksurteil (über das Schöne) das Wohlgefallen an einem Gegenstande jedermann ansinne, ohne sich doch auf einem Begriff zu gründen“. Er fügt hinzu, daß der Anspruch auf Allgemeingültigkeit wesentlich zu einem Urteil über das Schöne gehöre (Kritik der Urteilskraft A 21f.).

Kants Ästhetik ist eine subjektivistische Theorie. Das aber bedeutet, daß für ihn Objektivität nur soviel bedeutet wie Intersubjektivität. Sie bedeutet nicht, „daß richtige ästhetische Urteile Erkenntnisse des Gegenstands selbst darstellen und ästhetische Qualitäten den Gegenständen selbst zukommen, sondern sie kann nur in intersubjektiver Übereinstimmung bestehen“ (Kutschera S.135). Was die Schönheit angeht, so lautet die Konsequenz dieses Ansatzes, daß sie „ein Wert (ist), den wir den Dingen verleihen, nicht einer, den wir erfahren“ (l.c.139). Dazu kann man mit Kutschera sagen, daß diese Theorie letztlich nicht begründet ist; auch widerspricht sie dem gewöhnlichen Menschenverstand, dem es absurd vorkommt, daß wir der Musik Mozarts oder Beethovens, der großen Poesie ihre Schönheit verleihen würden.

Objektive Ansicht

Für eine objektive Theorie des Ästhetischen gelten als „allgemeine Kriterien für die Objektivität von Phänomenen“: Gegenständigkeit, Kohärenz und Intersubjektivität. Diese Theorie beruht auf dem entscheidenden Argument, daß jede Erfahrung eine Erfahrung von etwas ist, oder anders gesagt, daß „das was uns in der Erfahrung begegnet, etwas Objektives“ ist (l.c.143). Mit dem Kriterium der Kohärenz ist gemeint, daß ästhetische Urteile Aussagen sind, die gerechtfertigt oder begründet werden können.

Diese Ansicht kommt meines Erachtens dem Standpunkt des gewöhnlichen Menschenverstandes recht nahe. Denn wir nehmen gewöhnlich an, daß literarische Texte objektive Eigenschaften haben, die nicht von unserem Gefühl oder der Sicht des Lesers abhängen: sprachliche, grammatische, rhetorische, erzähltechnische, thematische Eigenschaften. Es ist evident, daß diese Eigenschaften den Texten an sich zukommen und in diesem Sinne objektiv sind. Wir können darüber Aussagen machen, die wahr oder falsch sind. Wie steht es aber mit Werturteilen, in denen die Texte als schön oder schlecht, gelungen oder mißglückt bezeichnet werden? Sie sind meines Erachtens in einem abgeleiteten Sinne objektiv, insofern sie durch die Beschreibung objektiver Eigenschaften der Texte begründet werden können.

Klassisch

Damit sind wir bei dem entscheidenden Punkt angelangt, wo sich die Frage nach literarischer Größe, d.h. überragender Bedeutung von sprachlichen Kunstwerken stellt, von Dramen, Gedichten, Romanen. Werke, die sich derart auszeichnen, nennt man klassisch. „Klassisch“ ist hier kein historischer Begriff für eine Kunstepoche, sondern ein normativer Begriff, ein Synonym für „vorzüglich“, „mustergültig“, „ausgezeichnet“ u.ä.

Gadamer nennt zwei Merkmale, die ausdrücken, was mit dieser Vorzüglichkeit gemeint ist: „Was klassisch ist, das ist herausgehoben aus der Differenz der wechselnden Zeit und ihres wandelbaren Geschmacks … ein Bewußtsein des Bleibendseins, der unverlierbaren, von allen Zeitumständen unabhängigen Bedeutung.“ (l.c. 272) Oder mit den Worten George Steiners: Klassisch ist „der große Text, das bedeutende Kunstwerk, die überragende musikalische Komposition, das ‚Neue, das neu bleibt‘ (Ezra Pound)“ (Errata. München 2002, 37).

Wie man sieht, handelt es sich hier um ein strenges, anspruchsvolles Kriterium, und man muß sorgfältig überlegen, welchen Werken der Moderne man überhaupt diese Auszeichnung zusprechen kann.

Das zweite von Gadamer genannte Merkmal des Klassischen erleichtert uns die Anwendung auf bestimmte Werke: „Die als klassisch geltenden Autoren sind, wie man weiß, jeweils die Repräsentanten bestimmter literarischer Gattungen. Sie galten als die perfekte Erfüllung solcher Gattungsnorm, ein in der Retrospektion der literarischen Kritik sichtbares Ideal.“ (l.c. 273)

In diesem Sinne ist es begründet und gerechtfertigt, daß E.T.A. Hoffmann wegen der Eigenart seiner Dichtungen hochgeschätzt und über die Grenzen hinweg einflußreich wurde. Sein Name wurde geradezu ein Synonym für phantastische Dichtung. Alfred Döblins Größe aber beruht darauf, daß er den bedeutendsten Großstadtroman, den bedeutendsten historischen Roman und den bedeutendsten Zukunftsroman der deutschen Literatur schrieb: Berlin, Alexanderplatz, Wallenstein, Berge, Meere und Giganten (cf. J.Q., Geschichtsroman und Geschichtskritik).

Was Thomas Mann angeht, so werden meines Erachtens von seinem Werk die Buddenbrooks und der Tod in Venedig überleben, ein realistisch getreuer Gesellschaftsroman und eine originelle Künstlernovelle. Klassisch in diesem Sinne ist auch Joseph Roths Hiob, ein Roman von einfacher Größe über ein gewaltiges Menschheitsthema (cf. J.Q., Lesen um zu leben). Das Gleiche gilt von Elias Canettis Blendung, der Geschichte eines exzentrischen Geistesmenschen, einer rein mentalen Daseinsform.

Genie

Man hat im Falle überragender Kunstwerke früher häufig von genialen Werken gesprochen. Das Wort „Genie“ aber hat inzwischen einen Bedeutungswandel durchgemacht, den man nicht ignorieren kann. Für das Genie aber ist wesentlich, daß es aufgrund der Intuition Neues schafft und hervorbringt. Hier ist nun aufschlußreich, daß Kant den Vernunftbegriff von jedem intuitiven Merkmal gereinigt hat. Deshalb ist er gezwungen, Newton, dessen physikalische Theorie eine der größten Leistungen des menschlichen Geistes ist und in der Wissenschaftsgeschichte wahrlich Epoche machte, jedes Genie abzusprechen, obwohl er von der Wahrheit der Newtonschen Theorie so sehr überzeugt war, daß er den Grundgedanken seines kritischen Systems daran orientierte. Genialität läßt er nur auf dem Gebiet der Kunst gelten, z.B. bei Wieland (KdU B 184).

Wir aber haben heute ein völlig anderes Verständnis von Genialität, es orientiert sich gerade an den höchsten wissenschaftlichen Leistungen. Für uns ist Albert Einstein das Genie schlechthin, weil er mit seiner Relativitätstheorie das Weltbild der alltäglichen Einstellung, unsere Vorstellung von Raum und Zeit, die wir für natürlich hielten, gründlich geändert hat. Auch sehen wir, daß auch wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen kaum ohne Intuition möglich sind. Im Vergleich zu diesen Leistungen zögern wir aber, selbst die größten Dichter, Musiker oder Maler der Moderne Genies zu nennen. Der Grund für diesen Wandel des Geniebegriffs ist offensichtlich: wir sind uns bewußt, daß wir in einem wissenschaftlichen Zeitalter leben, die Wissenschaft und ihre technische Folgen bestimmen unser Alltagsleben bis in die letzten Winkel. Die gegenwärtige Kunst aber hat uns kaum noch etwas zu sagen (cf. J.Q., Wenn das Denken feiert S.195f.).

Dieser Sachverhalt kann uns aber lehren, bei dem Urteil über neue Dichtungen darauf zu achten, ob sie sich der Intuition, fruchtbaren Einfällen, verdanken oder aber konstruierte Gebilde, reine Fleißarbeiten sind.

Wirkung

Um auf das zweite, von Gadamer erwähnte Merkmal des Klassischen zurückzukommen, es verweist auf die Fähigkeit, die weitere Literatur beeinflussen zu können. Vorzüglich wäre demnach ein Werk, wenn es formale oder thematische Anregungen enthielte, die später aufgenommen und weitergeführt werden könnten. Es käme also auf die fruchtbare Wirkung des Werkes an.

Hier ergibt sich aber, was die moderne Literatur angeht, sofort ein Problem, daß ein Œuvre überragend sein, aber nicht nachgeahmt werden kann. So Franz Kafka, wie Jean-Paul Sartre als erster festgestellt hat: „Über Kafka ist alles gesagt worden: daß er die Bürokratie, die Fortschritte der Krankheit, die Lage der osteuropäischen Juden, die Suche nach der unzugänglichen Transzendenz, die Welt der Gnade, wenn die Gnade fehlt, beschreiben wollte. All das ist wahr, ich würde sagen, daß er das Menschsein hat beschreiben wollen.“ Um daraus zu folgern: „Kafka imitiert man nicht, schreibt man nicht neu: man mußte aus seinen Büchern eine kostbare Ermutigung schöpfen und woanders weitersuchen.“ (Was ist Literatur? (1948) Reinbek 1990, 175)

Und doch haben vor allem in der Nachkriegszeit immer wieder Autoren versucht, im Stil Kafkas zu schreiben. Sie sind alle als Romanciers gescheitert, weil ihr Schreiben nicht echt oder authentisch war. Sie beanspruchten eine Erfahrung wiederzugeben, die ihnen vollkommen fremd war; die sie nicht mal in der Imagination vorstellen konnten. Daraus kann man folgern, daß zu dem Begriff einer vorzüglichen Kunst oder Literatur, in welcher Form oder Abwandlung auch immer, ebenfalls der Begriff des Authentischen gehört (cf. J.Q., Über das authentische Selbstbild).

Wie aber steht es mit der Wirkung, die andere Schriftsteller ausgeübt haben, ohne daß ihre Nachfolger verächtliche Epigonen wurden? Sie ist im Falle Döblins offenkundig, da er von allen Autoren seiner Zeit den stärksten Einfluß auf die folgende Generation ausgeübt hat. Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Günter Grass stehen als Romanciers literarisch in seiner Schuld. Was Thomas Mann angeht, so waren Alfred Andersch und Jean Améry immer seine unbeirrbaren Verehrer, doch hüteten sie sich, seine Schreibart zu übernehmen. Die ihn nachahmten, waren Epigonen, die längst vergessen sind – mit einer Ausnahme: Ernst von Salomon. Er bekannte, von Thomas Mann schreiben gelernt zu haben. Was hat er konkret gelernt? Lesbarkeit. Sein Fragebogen ist in höchstem Grade lesbar (Reinbek 1974, 201).

Dies belegt sehr schön die Reaktion Simone de Beauvoirs. Sie ist politisch und ideologisch durch Welten von Salomon getrennt, doch ließ sie sich von dem „Schwung seiner Schilderungen“ hinreißen: „Ich merkte, wieviel Unaufrichtigkeit in seinem Verfahren steckte und daß sie sich sogar im Spiel bemerkbar machte. Aber der Schwung seiner Schilderungen rief in mir das alte Verlangen wach, von meinen eigenen Erinnerungen zu berichten.“ (Der Lauf der Dinge. Reinbek 1970, 289) Das heißt also nichts anderes, als daß Salomon mitverantwortlich war für die große Autobiographie de Beauvoirs. Freilich gehörte sie zu einem Stamm von Intellektuellen, die sich durch literarische Sensibilität auszeichneten, während die deutschen Intellektuellen nicht mal die sprachliche Qualität des Buches erkennen wollten.

Weltliteratur

Ein weiteres Merkmal großer Literatur besteht darin, daß man sie als Spitzenprodukte ihrer Art zur Weltliteratur zählt. Der Begriff wurde von Goethe in einem Gespräch mit Eckermann am 31. Januar 1827 geprägt. Es ist kein geographischer Begriff der tatsächlichen Verbreitung, sondern ein normativer Begriff höchster Leistung, der die Enge der Nationalliteratur übersteigt und die vorzügliche Poesie der ganzen Menschheit bezeichnet. Ansatz des Gedankens ist Goethes Überzeugung, „daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist“, und die Frage ist, wer es am besten macht.

Die Qualität einer Dichtung hängt also nicht davon ab, ob sie weltweit verbreitet ist. Agatha Christie, Stephen King werden praktisch in allen Ländern gelesen, doch wird man sie ganz gewiß nicht für literarische Klassiker halten.

Zweitens muß man sich bewußt sein, daß es zwischen dem gut begründeten Kanon einer Nationalliteratur und dem tatsächlich bestehenden Kanon der Weltliteratur unlösbare Konflikte geben kann. Das Musterbeispiel, auf das wiederum George Steiner aufmerksam gemacht hat, ist Jean Racine, ein hochgeschätzter, unbestrittener Klassiker der französischen Literatur, der aber niemals Eingang in die englische Kultur gefunden hat, nicht mal angemessen übersetzt werden konnte (Errata S.52). Aus der deutschen Literatur wäre Lessing zu nennen, der jenseits der Grenzen praktisch unbekannt ist, aber der erste der Epoche unserer Klassik ist, ein großer Dramatiker, ein Poetologe und ein Literaturkritiker höchsten Ranges.

Produktivität

Eine letzte Frage betrifft die Produktivität eines Schriftstellers. Es ist evident, daß die Frage der literarischen Größe eine Frage der Qualität, nicht der Quantität ist. Groß ist nicht der Dichter, der viel geschrieben, sondern der Dichter, der Vorzügliches geschrieben hat. Es versteht sich von selbst, daß nur wenige Dramen, Romane oder Gedichte eines Dichters Leistungen oberster Güte sein können. Man erinnert sich an das Wort Gottfried Benns: „Eine tragische Erfahrung der Dichter an sich selbst: keiner auch der großen Lyriker unserer Zeit hat mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen“. So Benn in der Marburger Rede 1951 über „Probleme der Lyrik“.

Aus dem Sachverhalt, daß literarische Qualität begrifflich das Gegenteil von literarischer Quantität ist, zog man dann aber vielfach den falschen Schluß, daß ein Autor, der viel produzierte oder gar populäre Romane verfaßte, kein Meisterwerk schaffen könnte.

Ein Opfer dieses Vorurteils wurde Georges Simenon, der jahrelang, nachdem er seriöse Romane geschrieben hatte, von der Literaturkritik nicht ernst genommen oder ignoriert wurde. Es bedurfte der Stimme André Gides, um die literarische Öffentlichkeit von der wahren Bedeutung Simenons zu überzeugen. Sein Urteil von 1939 machte dann Schule: „Ich halte Simenon für einen großen Romancier; vielleicht für den größten und den wahrsten Romancier, den wir in der französischen Literatur heute gehabt haben.“ (Pierre Assouline, Simenon. Paris 1992, 338)

In der Tat hat Simenon, unerreicht in der realistischen Kunst der lebensechten Darstellung, neben den vielen unverächtlichen Werken zweiten Ranges einige Romane geschrieben, die in der Literatur des letzten Jahrhunderts hervorragen. Ich habe sie in den beiden Büchern über ihn gebührend beachtet und gewürdigt: Die Unbekannten im Haus, Der Schnee war schmutzig, Der Präsident, Der Sohn, Die Glocken von Bicêtre, Der kleine Heilige (cf. Über Simenons traurige Geschichten und Leidenschaft im Werk Simenons).

Definition

Die Stichworte zusammenfassend, könnte man sagen: Literarische Größe sprechen wir dichterischen Texten zu, die neuartig und originell sind; die einzelne Gattungen glänzend repräsentieren; die vorbildlich und wirkungsvoll sind; die ein Menschheitsthema vortrefflich gestalten oder existentielle Erfahrungen authentisch wiedergeben. Große Literatur zeichnet sich durch Dauerhaftigkeit aus , die den Wechsel künstlerischer Anschauungen überstanden und auch uns noch etwas zu sagen hat. Mit den Worten des Horaz ausgedrückt: „Exegi monumentum aere perennius“ (Ich habe ein Denkmal aufgerichtet, dauerhafter als Erz).

© J.Quack — 14.Aug. 2023


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