Josef Quack

Spiel um Leben oder Tod
"Sonntag"





Es geschah an einem Sonntag (dt. Hansjürgen Wille, Barbara Klau. Köln 1960. Dimanche 1959) ist ein packender Kriminalroman, den man nach Möglichkeit auf einen Sitz liest. Vor konventionellen Krimis zeichnet er sich durch ein paar singuläre Zutaten Simenonscher Provenienz aus. Die kriminelle Intrige endet mit einer Pointe, die zwar naheliegend ist, die man hier jedoch leicht übersieht. So gelingt es Simenon, ein bekanntes Moment als originell erscheinen zu lassen und damit das niedere Genre zu veredeln.

Zweitens kommt Simenon in dieser Geschichte wieder auf ein Tatmotiv zu sprechen, das im gewöhnlichen Betrieb der Ermittlungen oft übersehen wird. Es ist seine Einsicht und er hält sie für eine wichtige Entdeckung.

Schließlich stellt er in diesem Roman eine Figur vor, die einen seltenen Menschentyp verkörpert. Allein wegen dieser Person sollte man den Roman kennen, wenn einem daran gelegen ist, das menschliche Universum Simenons zu überblicken.

Die Erzählung beginnt mit der Schilderung des Sonntags, an dem der monatelang vorbereitete Plan ausgeführt werden soll. Welcher Plan es ist, erfährt man erst im Laufe der folgenden Kapitel, die einen Rückblick auf die Vorgeschichte der beabsichtigten Tat bringen, bis im letzten Kapitel der Faden des ersten Kapitels wieder aufgenommen wird.

Ort des Geschehens ist ein Landgasthof an der Côte d’ Azur, in einem kleinen Ort in der Nähe von Cannes. Der Besitzer des Restaurants und der kleinen Pension, Louis Harnaud, stammt aus der Vendée; das Lokal wird aber erst nach seinem Tod rentabel und gewinnbringend, als Emil Fayolle, knapp 30 Jahre alt, ebenfalls aus der Vendée stammend, die Küche übernimmt. Er ist ein begabter und kreativer Koch, der mit seinen neuen Gerichten in Kreisen der Gourmets berühmt wird. Er heiratet aus reinen Vernunftgründen Berthe, die Tochter des Hauses, mit der ihn nicht die geringste Zuneigung verbindet. Zwischen ihnen herrscht schließlich eine „Leere“, das Leitmotiv Simenons bezeichnet hier eine absolute Beziehungslosigkeit (S.97). Berthe ist und bleibt in jeder Hinsicht die Herrin des Hauses, die ihren Angestellten geheiratet, in dessen Augen gekauft hat (S.56).

Als Emil ein Rendezvous mit einer englischen Touristin hat und Berthe davon erfährt, setzt sie die Engländerin sofort vor die Tür, eine „Demütigung“, die Emil nicht vergißt (S.73). Als er mit Ada, ihrem jungen Dienstmädchen, eine intime Beziehung aufnimmt, verlangt Berthe, daß Ada entlassen werde. Emil stellt sich dem entgegen, indem er mit seinen Weggang droht. Berthe gibt notgedrungen nach, besteht aber darauf, daß sich an der gemeinsamen Lebensweise nichts ändert. Nach einiger Überlegung sieht Emil keinen anderen Ausweg aus der ihn bedrückenden Lage als die Ermordung Berthes, die er penibel vorbereitet, indem er sich über Arsenvergiftungen in Fachbüchern orientiert und die notwendige Dosis an einem alten Hund erprobt. Im Text sind seitenlange Zitate aus der Spezialliteratur eingefügt, was bei Simenon nur äußerst selten vorkommt. Damit wird die technische Sorgfalt Emils dokumentiert.

Dem gegenüber wird das alles entscheidende Tatmotiv Emils zwar unmißverständlich, aber doch wesentlich kürzer erörtert, so als verstehe es sich aus den Umständen von selbst. Es ist die Reaktion auf die Demütigungen, die er durch Berthe, seine untergeordnete Stellung erfährt. Sie demütigt alle, „die um sie waren“ (S.87; cf. S.73). Es ist verletzter Stolz, die Emil zu seinem Vorhaben bewegt (S.107). Mit anderen Worten: „Er verteidigte das Kostbarste, was er besaß, gleichgültig, ob man es Stolz, Eigenliebe oder Hochmut nannte, und er wußte, daß er nicht hochmütig war, daß er nur forderte, daß man ihn ein menschenwürdiges Leben führen ließ.“ (S.126)

Simenon hat die Bedeutung dieses Motivs öfter betont und in mehreren Romanen behandelt, z. B. in Die Zeit mit Anais (1950), am wirkungsvollsten in Maigret und die Affäre Nahour (cf. J.Q., Über Simenons traurige Geschichten, S.13).

Wie andere Romanhelden Simenons denkt auch Emil über die Rolle des Schicksals in seinem Leben nach. Es heißt, daß der Zufall ihn in jenes Haus verschlagen habe (S.34). Doch ist er später davon überzeugt, daß sein Verhalten notwendig gewesen sei, „und daß das, was er künftig tun würde, sich gewissermaßen schicksalhaft daraus ergeben würde“ (S.88). Das heißt, er glaubt an das Gelingen seines Planes, durch die Tatsache bestärkt, daß die Umstände sich zu seinen Gunsten entwickeln: „Alles schlug ihm schließlich zum Nutzen aus. Man hätte meinen können, daß eine Vorsehung …“ (S.138).

Mit einem gewissen Vorbehalt glaubt Emil also an die Macht des Schicksals. Dabei aber hat er den menschlichen Faktor übersehen, seinen Gegenspieler, das Verhalten seiner Feindin Berthe. Der Konflikt zwischen ihm und ihr ist schließlich „eine Sache auf Leben und Tod“ (S.143). Der Ausgang ihres Streites ist keine Sache des Schicksals, sondern eine Sache der Intelligenz zweier Menschen, und das Werk ist kein Schicksalsroman, wie der deutsche Klappentext suggeriert.

Zu erwähnen wäre noch, daß Emil bei der Vorbereitung der Tat gelegentlich von Gewissensbissen geplagt wird, die sich durch Erinnerungen an biblische Szenen und Verbote äußern, was bei Simenon nicht gerade häufig vorkommt.

Einzigartig ist in seinem Werk jedoch das achtzehnjährige Dienstmädchen Ada, das in den Augen der anderen Romanpersonen als nicht ganz normal gilt, vom Erzähler aber wohlwollend als eine Wilde, als ein animalisches Wesen, betrachtet und mit einer Indianerin und einem Haustier verglichen wird (S.76; 79; 91). Symptomatisch ist ihr Verhalten bei der ersten intimen Begegnung mit Emil, die sie in eine Ekstase versetzt (S.85).

Diese unbeschwerte, ungeheuchelte, sozusagen authentische Leidenschaftlichkeit ist es wohl, die Simenon dazu bestimmte, sie als „armes Naturkind“ zu bezeichnen, „arm“ deshalb, weil ihr wahres Wesen von einem Literaturkritiker völlig verkannt wurde (Als ich alt war 1977, 136). Sie verkörpert nichts anderes als das ideale Menschenbild Simenons, in dem der Instinkt, das Fühlen oder das Herz den Vorrang vor dem Intellekt hat. Dieser nach Ansicht des Autors liebenswürdige oder doch achtenswerte Menschentypus ist nicht mit dem Menschentypus zu verwechseln, der auf eine vormenschliche Stufe der Evolution regrediert ist, wie ihn Simenon in Maigret und sein Toter beschrieben hat (cf. J.Q., Die Grenzen des Menschlichen, S.60f.).

Schließlich ist Es geschah an einem Sonntag ein weiterer Roman, in dem die Standardfrage erörtert und beispielhaft dargestellt wird, warum ein Mensch zum Mörder wird (cf. J.Q., Über Simenons traurige Geschichten, S.68f.). Man kann den Roman erst richtig würdigen, wenn man ihn im Kontext des Œuvres von Simenon betrachtet.

J.Q. — 1. Feb. 2023

© J. Quack


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