Josef Quack

Zu einem Register deutscher Torheiten

Josef Kraus: „Der deutsche Untertan. Vom Denken entwöhnt“. München 2021.



Dieser Tage wurde in einem Bericht über Themen, die an der Universität tabu sind, die Beobachtung Susanne Schröters, Professorin für Ethnologie, mitgeteilt: „Wenn ein Ethnologe über den Islamismus arbeitet, ist seine Karriere beendet“ (FAZ 3. März 2022, S.34). Mit Islamismus ist die Ideologie gemeint, wonach Taten der Gewalt und des Terrors unter Berufung auf den Islam gerechtfertigt werden. Heute aber schadet es einem Wissenschaftler, wenn er Phänomene dieser Art, ihre Ursachen und Ausbreitung, unleugbare politische Tatsachen, beschreibt und erforscht. Das heißt aber nichts anderes, als daß die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung an unseren Universitäten eingeschränkt ist und zwar durch die vorherrschende Meinung der Mehrheit der Lehrer und Studenten. Zweifellos ein Skandal, noch größer aber ist das Ärgernis, daß dergleichen von Staatsbehörden geduldet wird.

Diese Beobachtung paßt genau in das Register jener Tabus, Denkverbote und Vorurteile der öffentlichen Meinung, die Josef Kraus in seiner Streitschrift gegen den von ihm als links bezeichneten Zeitgeist an den Pranger stellt. Jener Fall gehört in das Kapitel des „Islamophilismus“ — so nennt er das unbegründete Wohlwollen und die kaum zu verantwortende Nachsicht, die in Politik und Gesellschaft dem Islam entgegengebracht werden. Kraus verurteilt den „imperialen Anspruch des Islam“, wobei er meines Erachtens aber nicht genügend zwischen friedlicher, an die Überzeugung appellierender Missionierung und gezielter „Infiltration“ unterscheidet (S.147). Recht hat er dagegen, wenn er es verurteilt, daß eine Kritik am Islam prinzipiell in der Öffentlichkeit kaum mehr erlaubt werde.

Ein kurioses Beispiel für die falsche Rücksichtnahme auf diese Religion lieferte der Münchener Kardinal Reinhard Marx, die wohl peinlichste Figur der an peinlichen Figuren reichen derzeitigen Amtskirche Deutschlands. Im November 2016 besuchte er den Tempelberg in Jerusalem und legte das Bischofskreuz ab, um die Muslime „nicht zu beleidigen“ (S.150). Soviel zum Bekennermut eines ranghohen Christenmenschen.

Von dem gleichen Funktionär des Christentums wird das Diktum überliefert, er könne mit dem „Christlichen Abendland“ nichts anfangen, weil der Begriff "ausgrenzend" wirke (S.217). Der Kirchenmann hat offenbar nicht gesehen, daß jener Begriff nichts anderes ist als das ergänzungsbedürftige Pendant zu „Christliches Morgenland“, also das Gegenteil einer ausgrenzenden Kategorie. Kurios ist das Beispiel auch deshalb, weil der Kirchenvertreter sein kleingläubiges Unverständnis in Sachen des Christentums in einem Augenblick äußert, wo ein namhafter, religiös interessierter, aber betont säkularer Philosoph, Jürgen Habermas, ein monumentales, 1700 Seiten umfassendes Werk über die vom Christentum bis heute geprägte Philosophie des Abendlandes schreibt: Auch eine Geschichte der Philosophie. Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen .

Die Liste der Fehler und Torheiten, die Josef Kraus, ehemals Gymnasiallehrer, Schulpsychologe, Verbandsfunktionär, dem „deutschen Michel“ vorhält, umfaßt noch unter anderem: „die permanente Preisgabe nationaler Souveränität“, den „Selbsthaß gegen alles Deutsche, gepaart mit Sündenstolz“, „die Pathologisierung Andersdenkender (als islamo-, xeno-, afro-, homo-, transphob)“, „Toleranz gegen Intoleranz“, das Verschweigen und die Bagatellisierung der Gewalttaten von „Flüchtlingen“, „das Hofieren von 0,2 Prozent-Minderheiten“, „der Verfall des Bildungswesens“, der Klima-Populismus, „die Besetzung politischer und medialer Spitzenämter mit Nieten“, „die zwangsgebührenfinanzierte Indoktrination“, „die klammheimliche Zensur in den neuen Medien“ usw., usw.

Alle diese teils von Schwachsinn, teils von Anmaßung diktierten Fehler, politisch-gesellschaftlichen Tendenzen und Auswüchse sind im Prinzip längst bekannt; Kraus aber belegt seine Kritik mit zahlreichen Einzelbeispielen und in dieser gehäuften Massierung ist das Ganze wirklich erschreckend. Das Bild, das er von Politik, Gesellschaft, Kultur und Medien in Deutschland zeichnet, ist gewiß in manchem polemisch übertrieben und verzerrt gezeichnet, im Grunde aber kann man seine Wahrheit nicht leugnen. Was er zu der Unwissenschaftlichkeit der Gender-Ideologie, über die unbelehrte Doktrin des Antirassismus, die Diktate der politischen Korrektheit, das Pidgin-Englisch an den Universitäten ausführt, ist so treffend und unmittelbar einleuchtend, daß man sich fragt, warum diese Trends überhaupt entstehen und sich durchsetzen konnten.

Im einzelnen will ich darauf nicht eingehen, sondern nur weniges dazu anmerken. Ich glaube nicht, daß man Simone de Beauvoir für die Übertreibungen des heutigen Genderismus und Feminismus verantwortlich machen kann (S.108). Ihr ging es darum, das Selbstbewußtsein der Frau durch den Gedanken zu formen und zu stärken, daß ihr Wesen von der Natur nicht gänzlich determiniert ist, sondern auch durch die Frau selbst gebildet werden kann. Sie hat im Grunde nur die Idee der existentiellen Freiheit, daß der Mensch nicht umhin kann, zu wählen, was für ein Mensch er sein will, auf „das Zweite Geschlecht“ angewandt. Beauvoir hätte keineswegs der geistig verstiegenen Feministin zugestimmt, die sogar das Wort „Mutter“ für diskriminierend hält (S.112).

Kraus weist mit Recht auf die neuere kirchenhistorische Forschung hin, die ergeben hat, daß Pius XII. sich während des Krieges tatkräftig für den Schutz der Juden in Rom eingesetzt und dadurch etliche Tausend vor der Verfolgung gerettet hat (S.211). Man kann also Rolf Hochhuths Vorwurf gegen des Schweigen des Papstes nicht mehr ohne Einschränkung wiederholen.

Es ist gewiß nicht akzeptabel, daß Schulen Bundeswehroffizieren den Zutritt verweigern, und es ist geradezu absurd, daß sie für diese billige Demonstration auch noch einen Friedenspreis bekommen, von staatlichen, gewerkschaftlichen und kirchlichen Stellen gesponsert (S.102). Freilich wirkt eine Armee, die ihr Fluggerät verrotten läßt, nicht gerade einladend; ebenso wenig wie eine Militärpolitik mit sinnlosen Einsätzen im Ausland, wie jener in Afghanistan.

Wichtig ist auch das Kapitel, in dem Kraus den verbreiteten Brauch anprangert, kritische Stimmen in der Öffentlichkeit und den Medien nicht mehr zu Wort kommen zu lassen oder ihre Meinung nicht mehr zu dulden. In den öffentlich-rechtlichen Talkshows werden nur noch Ja-Sager eingeladen, Vertreter abweichender Meinung ausgeschlossen. Die Politik dieser Anstalten richtet sich offensichtlich nach dem Faktum, daß die meisten Intendanten ein Parteibuch haben (S.227).

Merkwürdig ist auch der Usus der manipulierten Information. So wurde ein Titel aus der Bestseller-Liste des Spiegel gestrichen, weil er der ideologischen Richtung des Magazins widersprach (S.188). Nachdenklich stimmt auch das Faktum, daß die FAZ in den letzten zwanzig Jahren die Hälfte ihrer Leser verloren hat. Zu fragen bleibt, warum das Blatt ihre Kunden verlor und warum es dagegen nichts unternahm, zum Beispiel durch die Steigerung der journalistischen Qualität, durch Distanz zu geistigen Moden (cf. Notiz zum 70jährigen FAZ-Jubiläum). Dagegen ist das lange Kapitel über Merkel ziemlich überflüssig, weil Kraus den Einfluß der Frau doch wohl überschätzt und letztlich auch die Antwort auf die Frage schuldig bleibt, warum diese Frau solange die Regierung anführen und ihre Partei beherrschen konnte.

Auch gravierendere Einwände gegen das Buch lassen sich nicht verschweigen. Der wichtigste Fehler, den man ankreiden muß, besteht darin, daß der Autor einen Rechtspositivismus zu vertreten scheint. Er behauptet im Hinblick auf das Recht der Gesellschaft, die Moral sei keine Rechtsquelle (S.95). Dagegen erklärt der erste Paragraph des Grundgesetzes eine moralische Norm zum Leitfaden aller staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, die Würde des Menschen sei unantastbar. Außerdem kritisiert Kraus selbst mit einem moralischen Argument staatliche Gesetze, wenn er „die 100 000-fache Tötung ungeborenen Lebens“ verurteilt (S.12).

Der Autor wirft den „deutschen Untertanen“ im Titel vor, sie seien „vom Denken entwöhnt“. Der Vorwurf wäre gewiß glaubwürdiger, wenn der Autor selbst keine Denkschwächen wie den erwähnte Fehler zeigen würde. Dieser Lapsus verrät, daß Kraus über die Philosophie offensichtlich nicht informiert ist, um eine Bildungslücke höflich auszudrücken.

Er hat ein dilettantisches Verständnis von Metaphysik. Sie ist für ihn ein Buch mit sieben Siegeln, das er ausgerechnet mit der pseudowissenschaftlichen Psychologie Freuds und C.G. Jungs zu entschlüsseln sucht. Er schreibt, „die metaphysische Veranlagung“, ein „Heimweh ins Metaphysische und damit eine Abkehr vom Rationalen“ sei offenbar eine Eigenart gerade der Deutschen“ (S.136). Gleichen Sinnes ist auch die Bemerkung: „Absolute Gerechtigkeit bleibt ein irrationales (metaphysisches) Ideal“ (S.304). Man kann dem Autor nur empfehlen, in einem Lexikon nachzuschlagen, was „Metaphysik“ bedeutet. Seine Meinung impliziert, daß Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Leibniz, Kant, Frege, Popper Denker seien, die sich vom Rationalen, also der Vernunft, abgekehrt hätten — eine Ansicht, die nur einem Autor in den Sinn kommen kann, der in philosophischem Denken unbewandert ist.

Und dieser Autor plädiert dann noch für Bildung, freilich besonders für historische Bildung, als käme es auf die naturwissenschaftliche Bildung nicht an. Er könnte sich wundern, wenn er wüßte, daß selbst die moderne Astrophysik nicht ohne metaphysische Theorien auskommt (cf. Brian Greene, Das elegante Universum 2006).

Das Gegenteil von "metaphysisch" ist übrigens nicht "rational", sondern "empirisch".

Ein weitere Fehlleistung des Autors besteht darin, daß er psychologische Kategorien, die für menschliche Individuen geprägt wurden, auf Gruppen, Gesellschaften oder gar ganze Völker anwendet. Er spricht von dem „kollektiven Unbewußten“ der Deutschen (S.24), was schlicht unsinnig ist, da ein Kollektiv keine Person ist und keinen Geist oder keine Seele hat, der etwas bewußt oder unbewußt sein könnte.

Anders verhält es sich mit dem „kollektiven Gedächtnis“ (S.28), das man immerhin wenigstens als Metapher auffassen kann: es bezeichnet in diesem Sinne historische Erinnerungen einer Mehrheit Gebildeter, hier die Erinnerungen an den Dreißigjährigen Krieg, die durch die Geschichtsschreibung und die Literatur wachgehalten werden: von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, der erste große deutsche Roman, Friedrich Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, seine Wallenstein-Trilogie, das bedeutendste deutsche historische Drama, Alfred Döblins Wallenstein, ein Geschichtsroman von weltliterarischem Rang (cf. J.Q., Geschichtsroman und Geschichtskritik), Golo Manns magistrale Wallenstein-Biographie. Kein anderes Ereignis der deutschen Geschichte hat eine derart kunstgerechte und kompetente Darstellung gefunden, so daß man wohl sagen kann, es sei in das Gedächtnis der Deutschen eingegangen.

Dann verwundert es auch nicht, daß Kraus als Remedur der von ihm aufgeführten Torheiten der Deutschen für „gebildete Eliten“ plädiert. Dagegen möchte ich nur die Einwände Poppers gegen die Elitebildung referieren. Politische Eliten sind nach seiner Ansicht von Cliquen praktisch nie zu unterscheiden. Wissenschaftliche Eliten sind deshalb unmöglich, weil das wissenschaftliche Wissen aus Vermutungen und Hypothesen besteht, so daß es kein absolut gesichertes Wissen als Grundlage von Autorität geben kann (Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt 1995, 251; 227; cf. J.Q., Über das Ethos von Intellektuellen, S.18ff.).

Schließlich wird man nicht sagen können, Josef Kraus schreibe ein gutes Deutsch. Er hat eine unselige Vorliebe für überflüssige, unschöne Fremdwörter: Autophobie für Selbsthaß, Demophobie als Angst vor dem eigenen Volk, Autorassismus, Autoritarismus, Flashmob, Cancel Culture u.a. Er übernimmt bedenkenlos stilistische Marotten, z.B. "Kann der Deutsche Revolte?" (S.20) u.ä. Wie aber kann die Kritik eines Autors am Multikulturalismus glaubhaft sein, wenn er die Sprachkultur seines eigenen Landes nicht achtet?

Er polemisiert gegen die „Schlechtschreibreform“ (S.173), wenn auch nicht aus sprachwissenschaftlichen, sondern aus pädagogischen Gründen, weil sie in der Schule zu vermehrten Schreibfehlern beigetragen habe. Er selbst aber läßt sein Buch nach den Regeln der staatlich verordneten, vermurksten Rechtschreibreform drucken. Er ist also auch ein deutscher Untertan.

J.Q. — 8. März 2022

© J.Quack


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