Josef Quack

Georg Gänswein über Benedikt XVI.

Rez.: Georg Gänswein, Saverio Gaeta: Nichts als die Wahrheit. Mein Leben mit Benedikt XVI. Dt. F. Hausmann u.a. Freiburg 2023



Das Buch ist kein Enthüllungsbuch. Es enthält keine Sensationen. Es verzeichnet keine Kampagne des emeritierten Papstes gegen den amtierenden Papst. Der Autor zeigt vielmehr auf, daß die vieldiskutierten Enthüllungen der Vatileaks, aus dem Abstand der Jahre betrachtet, eine aufgebauschte Affäre letztlich belangloser Meldungen waren. Das Skandalöse darin waren nicht die publizierten Geheimdokumente, durchweg belanglosen Inhalts, sondern allein die Tatsache, daß es in der nächsten Umgebung des Papstes einen schwatzhaften Verräter gab, seinen Kammerdiener. Auch die übrigen Affären aus dem Pontifikat Benedikts werden im Rückblick auf ihr wahres Maß reduziert. Es waren durchweg Kommunikationsfehler, vermeidbare Mißverständnisse oder falsche Anschuldigungen papstfeindlicher Kreise. Was aber das Verhältnis der beiden Päpste angeht, so wird klar, daß Benedikt sich gegenüber Franziskus immer loyal verhalten und zu den Maßnahmen seines Nachfolgers, die er nicht billigen konnte, geschwiegen hat.

In historischer Hinsicht erfährt man von Gänswein den entscheidenden Grund, der Benedikt zu seinem Rücktritt geführt hat, und aus der Schilderung der letzten Jahre Benedikts geht hervor, daß diese Entscheidung denn auch richtig war. Als biographische Erzählung weist das Buch drei Höhepunkte auf: die Schilderung der Wahl Ratzingers zum Papst, den Bericht über seinen Amtsverzicht und den Abflug von St. Peter, die Beschreibung der letzten Lebenstage Benedikts.

Gänswein schreibt aus der Sicht des vatikanischen Insiders, eines Kurienmitglieds, über die Interna der Kurie, die allzumenschliche Eitelkeit, Rivalität, Geltungssucht, Kleingeistigkeit ihrer Mitglieder höchsten und niedrigsten Ranges, kurz über Personen und Zustände, wie sie jede Bürokratie aufweist, nur daß hier fast alle Verlautbarungen und Mitteilungen mit einem frommen oder frömmlerischen Jargon verbrämt sind. Mitunter schildert der Autor Konflikte und Reibereien, die einem Außenstehenden wenig sagen.

Zur Person

Kardinal Ratzinger hat in mehreren Gesprächen glaubhaft versichert, daß er nicht damit gerechnet hat, der Nachfolger Johannes Pauls II. zu werden. Er hat die Papstwahl ein Fallbeil genannt, das auf ihn niederging. Hier erfahren wir nun, daß auch seine Mitarbeiter in der Glaubenskongregation ihm bei der Wahl keine großen Chancen gaben angesichts des Widerstands derer, die sein Denken wenig schätzten (S.66).

Später wurden dann sechs Gründe genannt, warum Ratzinger so schnell gewählt wurde: 1. das intellektuelle Prestige des großen Theologen, 2. die institutionelle Bedeutung als Präfekt der Glaubenskongregation und Dekan der Kardinäle, 3. die langjährige Erfahrung als Kurienmitglied, 4. die Legitimation als engster Vertrauter Johannes Pauls II., 5. seine tiefe Spiritualität und 6. sein starker apostolischer Geist (S.79). In der Tat konnte kein anderer Kardinal diese Vorzüge aufweisen und so ist er denn einer der gelehrtesten Päpste der Kirchengeschichte geworden.

Dem wäre hinzuzufügen, daß seine Mitarbeiter meinten, Kardinal Ratzinger lebe „außerhalb der kirchlichen Welt“ in höheren Sphären als dem Alltag der kurialen Behörde (S.13). Er galt als Geistesmensch und Gelehrter und weniger als Mann der praktischen Organisation, ein Ruf, der ihm auch als Papst treu geblieben ist. Einmal, 1997, gefragt, „welche Verantwortung der Heilige Geist für den Ausgang der Wahl trage“, antwortete er einschränkend: „Vermutlich ist die einzige Gewißheit, die er bietet, die, daß das Ganze nicht völlig zerstört werden kann. Es gibt zu viele Beispiele für Päpste, die der Heilige Geist offensichtlich nicht gewählt hätte.“ (S.57)

Was die Spiritualität angeht, so glaubt Gänswein feststellen zu können, daß Benedikt eine „mystisch-asketische Seite“ gehabt habe (S.57). Dem wäre die Aussage Benedikts im Gesprächsband Licht der Welt (2010, 31) entgegenzuhalten: „Mystiker bin ich nicht“. Was nicht ausschließt, daß er von der Wirkung seines Betens überzeugt war.

Gänswein erinnert auch daran, daß Ratzinger sich Benedikt nannte, weil er geistig an Benedikt XV. anknüpfen wollte, der die Kirche in stürmischen Zeiten mutig geführt hatte. Außerdem aber nannte er sich Benedikt, weil dieser Name an den Patron Europas erinnert, an den Gründer des Benediktinerordens, der an der Verbreitung des Christentums in Europa stark beteiligt war. Die Sorge des Papstes aber gilt einem säkularen Europa, das die christlichen Wurzeln seiner Kultur weithin vergessen hat (S.74).

Was nun die Affären angeht, die sein Pontifikat belastet haben, so handelt es sich dabei mehrfach um Mißverständnisse, die dann meist ausgeräumt werden konnten, um falsche Anschuldigungen oder reine Pressekampagnen. In seiner Regensburger Vorlesung, eine rein akademische Rede ohne politische Rücksichtnahme, hatte er die Frage gestellt, welche Rolle die Gewalt im Islam spiele. Zunächst gab es auf deutscher Seite Unverständnis, auf islamischer Seite Proteste, auch gewaltsamer Art; dann aber setzte sich die Einsicht bei islamischen Gelehrten durch, daß jene Frage durchaus berechtigt war.

Im Hinblick auf die Mißbrauchsfälle pädophiler Kleriker stellt Gänswein klar, daß Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation die juristischen Voraussetzungen im Codex juris canonici geschaffen hat, um die straffällig gewordenen Kirchenleute überhaupt angemessen bestrafen zu können. Als Papst ging er dann „drastisch gegen Priester vor, die des Mißbrauchs von Minderjährigen für schuldig befunden worden waren“. Zwischen 2008 und 2012 wurden 550 Geistliche laisiert und mehrere Bischöfe abgesetzt (S.283).

Schwer getroffen hat ihn dann der Vorwurf, er habe als Erzbischof von München an einer Sitzung teilgenommen, bei der es um einen klerikalen Mißbrauchsfall gegangen sei. Dann stellte sich heraus, daß es bei einer Ordinariatsratsitzung, bei der er anwesend war, nicht um dieses Thema ging, sondern darum, ob der betreffende Priester psychiatrisch zu behandeln sei (S.285). Die Anwälte aber hatten für ihre Behauptung, Ratzinger habe von dieser Mißbrauchstat gewußt, keine Beweise, die Behauptung war nur eine Vermutung (S.287) – was in meinen Augen ein zusätzliches, aber ganz unnötiges Ärgernis ist. Die Mißbrauchsfälle der Kleriker sind schlimm genug, da sollte doch wenigstens die juristische Aufarbeitung nicht stümperhaft, unsachlich und inkompetent, sondern unanfechtbar sein. Andernfalls wird die Aufarbeitung des Skandals unglaubwürdig.

Zu erwähnen wäre auch ein Fall des Mißverständnisses, der in Deutschland praktisch nicht bekannt geworden ist. Im Herbst 2007 sollte Benedikt an einer römischen Universität eine Vorlesung halten. Dagegen protestierte eine Gruppe von Physikdozenten mit dem Hinweis auf eine „Aussage von Paul Feyerabend, die Ratzinger in einer Rede vom 15. März 1990 aufgegriffen hatte: ‚Die Kirche zur Zeit Galileis hielt sich viel enger an die Vernunft als Galilei selber […] Ihr Urteil gegen Galilei war rational und gerecht.‘“ (S.178)

Dazu wäre zu sagen, daß Ratzinger den Satz Feyerabends zwar zitiert, sein Urteil aber nicht geteilt hat. Meines Erachtens aber haben jene Physiker mit ihrem Verhalten gezeigt, daß sie zwar kompetente Naturwissenschaftler sein mögen, aber von Astronomie-Geschichte und Wissenschaftstheorie wenig verstehen. Das angeführte Zitat ist die verkürzte Wiedergabe der Zusammenfassung eines Kapitels, in dem Feyerabend die beiden kirchlichen Prozesse gegen Galilei ausführlich untersucht. Die These jenes Zitats begründet er damit, daß die Kirche sich der Wahrheit eines wissenschaftlichen Beweises nicht widersetzen würde: „Aber, das war die Ansicht der Kirche zur Zeit der Verhandlungen, solche Beweise lagen nicht vor. Galilei und Kopernikus hatten höchstens Plausibilitätsargumente.“ (P. Feyerabend, Wider den Methodenzwang 1987, 214) Dem aber hat Feyerabend polemisch hinzugefügt, die kirchliche Revision des Urteils lasse sich nur „politisch-opportunistisch rechtfertigen“ (l.c. 206). Prinzipiell geht es in dieser Studie um die Frage, wie sich wissenschaftliche Theorien beweisen lassen, d.h. wie sich beweisen läßt, daß ihre Thesen mit der Wirklichkeit übereinstimmen.

Die Vatileaks genannte Affäre der Veröffentlichung vertraulicher Schreiben war eine von italienischen Medien inszenierte und maßlos aufgebauschte Kampagne, die eine Verschwörung in der Kurie gegen den Papst vortäuschte, die es nicht gab. Die „schärfsten Dokumente“, die damals bekannt wurden, waren Protestnoten, die die Amtsführung des Staatssekretärs Bertone kritisierten; diese Kritik aber war kein Geheimnis, sondern ein öffentlich vieldiskutiertes Thema (S.125). Weniger bekannt aber war ein Skandal in diesem Skandal – das auch später nicht erklärte Verhalten des Beichtvaters, der dem verräterischen, illoyalen Kammerdiener geraten hatte, seine Tat vorerst nicht einzugestehen (S.132).

Die wohl wichtigste Auskunft, die Gänswein in diesem Buch gibt, ist der entscheidende Grund, warum Benedikt auf sein Amt vorzeitig verzichtete. Er war gesundheitlich derart geschwächt, daß er seine Pflichten nicht mehr alle erfüllen konnte. Sein Arzt hatte ihm verboten, weite Flugreisen zu unternehmen. Benedikt aber wollte nicht dem Beispiel seine Vorgängers folgen, der zuletzt in seiner Agonie viele Amtsgeschäfte seinen Mitarbeitern überlassen mußte. Benedikt aber hatte gesehen, „wie enge Mitarbeiter von Johannes Paul II. sich immer mehr Einfluß verschafften und sich zuweilen in die Haare kamen“ (S.189). Ein derartiges Machtstreben der Mitarbeiter wollte er in seinem Fall nicht aufkommen lassen. Auch glaubte er bei seinem Amtsverzicht, daß er wohl nicht mehr lange zu leben habe.

Benedikt wollte ursprünglich am 21. Dezember 2012 seinen Rücktritt bekannt geben; doch Gänswein konnte ihn überzeugen, daß dieser Termin die Feier des Weihnachtsfestes verdüstern würde (S.189). Der Papst ließ sich überzeugen und verkündete seinen Amtsverzicht am 11. Februar 2013 während eines Konsistoriums, in dem es um die Heiligsprechung einiger Personen ging. Am 28. Februar 2013 sollte die Ankündigung dann ihn Kraft treten. Bei dieser Gelegenheit erfährt man übrigens en passant, daß die Heiligsprechung ex cathedra geschieht, ein Akt der päpstlichen Unfehlbarkeit ist (S.196).

Am letzten Tag Benedikts als Papst hielt der Kardinaldekan Angelo Sodano eine Rede, in der er seine Dankbarkeit gegen den Papst aussprach; wenig später aber erklärte er in einer Predigt, ein guter Hirte gebe sein Leben für seine Schafe – was man nur als Kritik an Benedikts sensationellem Schritt des Amtsverzichts auffassen konnte (S.217). Es war aber die einzige Kritik, die sich damals vernehmen ließ.

Als Papa emeritus führte Benedikt ein zurückgezogenes Leben in seinem vatikanischen Klösterchen mit seinem Privatsekretär Gänswein, einer Sekretärin und den vier Ordensschwestern, die den Haushalt und die Sakristei besorgten. Die Öffentlichkeit aber interessierte sich von Anfang an dafür, wie der alte Papst mit seinem Nachfolger auskommen werde.

Benedikt wunderte sich, ohne es öffentlich zu kommentieren, daß Franziskus auf die von einigen Kardinälen vorgebrachten theologischen Fragen und Zweifel, die später unter dem Titel „Dubia“ veröffentlicht wurden, nicht antwortete und er fand es unverständlich, daß Franziskus in seinen pastoralen Schreiben manches unbestimmt ließ, wo man hilfreiche Anweisungen erwartet hätte (S.270f.), und er schwieg auch, als Franziskus die lateinische Messe, die er erlaubt hatte, wieder verbot.

Gänswein erzählt eine Anekdote, in der Franziskus die Kenntnis des Lateinischen als überflüssig abgetan haben soll, und verweist auf die Bestimmung des Konzils, daß die lateinische Sprache in den Riten erhalten werden sollte und alle Seminaristen Latein zu lernen hätten, um die kirchlichen Dokumente verstehen zu können (S.276). Übrigens war eine italienische Journalistin als erste in der Lage, den Rücktritt des Papstes zu melden, weil sie Latein verstand (S.199).

Dem möchte ich hinzufügen, daß das Verbot der lateinischen Messe direkt oder indirekt auch den Gregorianischen Choral betrifft, der doch ein rühmliches Kapitel der Kirchenmusik darstellt. Der Choral wird immer seltener gesungen, was nicht nur ein spiritueller, sondern auch ein großer kultureller Verlust ist, der durch nichts zu rechtfertigen ist oder zu ersetzen wäre. Übrigens hat die Feier der Messe in den Landessprachen nicht dazu geführt, daß nun mehr Leute in die Kirche gingen; es ist vielmehr eine Banalisierung der Feier eingetreten. Mit dem Verbot der lateinischen Messe ist ein oft erlebtes Moment der Katholizität, des weltumspannenden Charakters der Kirche verloren gegangen. Diesen Verlust haben vielgereiste Autoren und Intellektuelle wie Graham Greene und Peter Scholl-Latour zu Recht immer sehr bedauert.

Erzbischof Gänswein war nicht nur Privatsekretär Benedikts, sondern auch Präfekt des Päpstlichen Hauses. Er konnte aber zu Franziskus kein Vertrauensverhältnis herstellen. Einmal wurde er von ihm im Beisein anderer wie ein Dienstbote abgefertigt. Als er sich beschwerte, er habe diese Behandlung als Demütigung empfunden, sagte Franziskus, „daß Demütigungen sehr guttun“ (S.252). Dies war wohl als frommer Scherz gemeint, obwohl es eher frommer Zynismus war, wenn es so etwas überhaupt geben kann.

Was nun die beiden Päpste angeht, die zusammen im Vatikan lebten, so ist natürlich ein sachlicher Unterschied zwischen ihnen nicht zu bestreiten. Benedikt verkörpert den theologisch ausgezeichneten Lehrer und Franziskus den Seelsorger mit organisatorischer Erfahrung, die in der Kurie dringend gebraucht wurde. Benedikts Stärke und Verdienst aber bestand in seiner erstaunlich fruchtbaren und wirksamen Lehrtätigkeit, und Gänswein hat recht, daß er diese Seite des Papstes ebenso ausführlich beschreibt, wie die Umstände seines persönlichen Lebens.

Zur Lehre

Hier wäre sofort zu klären, daß die kirchliche oder theologische Lehre kein Gegensatz zur Seelsorge, sondern selbst eine Form der Seelsorge ist, und auch die recht verstandene Seelsorge kommt nicht ohne ein theologisch gelehrtes Fundament aus. Freilich gibt es verschiedene Grade der Gelehrsamkeit und Benedikt war nun mal eine Ausnahme als Papst, da er ein hochqualifizierter Theologe war, was man von seinem Nachfolger wohl nicht sagen kann; vermutlich war dies der Grund, warum er sich auf keine Diskussion mit seinen Kardinälen eingelassen hat, die doch kraft ihres Amtes mit ihm die Kirche leiten sollten.

Ratzinger war als Präfekt der Glaubenskongregation an allen päpstlichen Schreiben seines Vorgängers beteiligt. Seine Methode bestand darin, daß er als „Dirigent“ die Vorbereitung und Abfassung der Dokumente überwachte und ordnete. Das wohl bedeutendste Werk dieses Pontifikats war der Katechismus der Kirche, den vorzubereiten Ratzingers Aufgabe war (S.51).

Viele Theologen, darunter Karl Rahner, hielten es nicht mehr für möglich, ein derartiges Kompendium des kirchlichen Glaubens zu verfassen. Rahner wies darauf hin, daß bisher alle neueren Versuche, einen verbindlichen Weltkatechismus zu schaffen, gescheitert seien. (K. Rahner, Grundkurs des Glaubens 1976, 432). Ein solches Werk aber zu erstellen, ist einer von Ratzinger geleiteten Kommission von Kardinälen und Bischöfen gelungen, und Ratzinger hat diesen Katechismus (1992) immer gegen alle Einwände glaubhaft verteidigt.

Als bedeutendes päpstliches Dokument dieser Jahre wäre meines Erachtens unbedingt auch die Enzyklika „Fides et ratio“ (Glaube und Vernunft, 1998) zu nennen. Es war seit Leo XIII. die erste kirchliche Grundsatzerklärung zur Philosophie, eine sachgerechte Schrift von überraschender Klugheit und Verständlichkeit, eine durchaus ernstzunehmende Schrift. Ratzinger hat dazu einige Ideen beigesteuert (Benedikt XVI., Letzte Gespräche 2016, 201). Daß dieses Schreiben in Deutschland kaum beachtet wurde, sagt einiges über das intellektuelle Niveau des Deutschen Katholizismus aus (cf. J.Q., Zur christlichen Philosophie bei Karl Rahner, S.161ff.).

Die alles überragende Schrift seines eigenen Pontifikats ist natürlich die Jesus-Monographie. Es ist ein einmaliges Ereignis der Kirchengeschichte, daß ein Papst ein „Leben Jesu“ veröffentlicht und damit den Christen zeigt, wie man die Berichte über den Gründer des Christentums unter den Bedingungen der modernen Exegese im einzelnen genau zu verstehen hat. Ratzinger war methodisch vorbereitet. Er hatte als Theologe das Problem, ob es neben der historisch-kritischen Bibelauslegung auch eine theologische Auslegung geben könne, mehrfach behandelt. „Schriftauslegung im Widerstreit“ nannte er dieses Problem (J. Verweyen, Joseph Ratzinger, Benedikt XVI., Die Entwicklung seines Denkens 2007, 84ff.).

In dem Jesus-Buch aber interpretierte er die Evangelien in der Auseinandersetzung mit den wichtigsten Kommentaren unserer Zeit. Er hatte neben seinen päpstlichen Pflichten ein enormes Lektüre-Pensum zu bewältigen und dies, obwohl er auf einem Auge erblindet war. Er widmete sich dieser Arbeit immer dienstags, dem freien Tag der päpstlichen Hausordnung, und teilte das Werk in drei Teile, weil er nicht sicher war, ob er die Monographie in einem Stück hätte verfassen und vollenden können (S.144). Eine geistige Höchstleistung, die man nur bewundern kann.

Völlig unverständlich ist die Kritik einiger kleiner Geister, die ihm entgegenhielten, daß er „die Zeit für sein Schreiben“ dem Dienst an der Kirche stehle. Er aber entgegnete, daß „auch das Schreiben eine Form der Regierung sei, da es neben den kirchlichen Verlautbarungen geistige Nahrung für die Gläubigen bereitstelle“ (S.26).

Ratzingers Stärke als Theologe war die hellsichtige Zeitdiagnose, sie bestimmte auch seine gesamte Lehrtätigkeit als Papst. Nach seiner Einsicht bestand das Hauptproblem der Gegenwart in der Glaubenskrise, dem Glaubenschwund, der sich vor allem in Europa zeigte. Das christliche Lebensmodell habe seine Überzeugungskraft verloren und das Christentum scheine mit der Rationalität der Moderne unvereinbar zu sein (S.288). Er hat erkannt, daß das moderne Lebensgefühl keinen Sinn mehr für das Sakrale hat (S.161) und der Glaubensschwund in der Kirche sich in der Trivialisierung des Sakramenten-Empfangs zeigt (S.289). Er machte sich Gedanken über die Bewahrung der Schöpfung und wies auf die Gefahr eines Biozentrismus hin, der zu einem „neuen Pantheismus mit neuheidnischen Akzenten“ führen könnte (S.169f.).

Er betonte die Achtung vor anderen Religionen und Kulturen, bestand aber demgegenüber auf der missionarischen Aufgabe der Kirche – ein Problem, dessen Lösung viel diskutiert wurde (S.49). Er widersprach der These Samuel Huntingtons vom Kampf der Kulturen und erklärte, daß die entscheidende Kampflinie heute zwischen den wertbewußten Kulturen und der Ideologie der „radikalen Emanzipation des Menschen“ verlaufe, womit die Gesellschaften des religiösen Indifferentismus, des moralischen Relativismus und auch des Atheismus gemeint sind (S.59).

Damit sind die Aufgaben angedeutet, die die von Benedikt propagierte Neuevangelisierung zu erledigen hat. Er selbst hat in seinen großen, vielbeachteten Reden vor der Weltöffentlichkeit, vor der UNO, in London und Paris wahrlich das Seine dazu beigetragen, diese Fragen zu erkennen und im christlichen Sinne zu beantworten.

Gänswein hat die zentralen Themen der Lehrtätigkeit und Reden Benedikts noch einmal mustergültig vorgestellt und durch zahlreiche sprechende Zitate belegt. Damit hat er die geistige Physiognomie Benedikts meisterhaft gezeichnet, die neben dem Porträt der Privatperson naturgemäß den Vorrang hat. Man spürt deutlich seinen berechtigten Stolz, daß er für diesen Papst arbeiten durfte.

Er teilt uns mit, daß Benedikt am 2. April 2017 seine letzte Predigt vor der kleinen Hausgemeinschaft gehalten hat, es fiel ihm schwer, laut zu sprechen. Wenn er im Amt geblieben wäre, hätte er spätestens ab diesem Zeitpunkt seinen Pflichten nicht mehr nachkommen können. Später war er auf die Hilfe eines Krankenpflegers angewiesen und auf einen Rollstuhl. Am 31. Dezember 2022 ist er nach einigen Anfällen schwerer Atemnot gestorben (S.303).

Zum Text seines Buches wäre zu sagen, daß er eine Ich-Erzählung ist, die von dem Journalisten Saverio Gaeta redigiert und veröffentlicht wurde. Wie diese Redaktion freilich genau aussah, läßt sich aus der vagen Angabe Gaetas im Nachwort nicht erkennen. Ich nehme aber an, daß der Text die Aussagen Gänsweins selbst enthält.

© J.Quack — 8. April 2024


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