Josef Quack

Anmerkungen zu einem Philosophischen Wörterbuch

Walter Brugger / Harald Schöndorf (Hg.), Philosophisches Wörterbuch.
Freiburg: Verlag Karl Alber 2010.



People need to be reminded more often than they need to be instructed.
(Die Leute haben es eher nötig, erinnert als belehrt zu werden.)

Dr. Johnson

Ein wichtiger Einwand vorweg: Die Verfasser dieses Wörterbuchs haben einiges getan, um sprachbewußten Lesern, die ein Gespür für stilistische Qualität haben, die Lektüre des Bandes nachhaltig zu vergällen. Sie verwenden fast auf jeder Seite den Anglizismus „meinen“ im Sinne von bedeuten: „Der Begriff Anschauung meint ursprünglich die visuelle Wahrnehmung“ u. dgl. m.
Zu dieser sprachlichen Unachtsamkeit paßt, daß der Anglizismus „Referenz“ nicht als solcher erkannt, sondern als Fachbegriff in einem Artikel behandelt wird. Dazu die plausible, gut begründete Kritik von Joachim Schulte (in W.V. Quine, Wort und Gegenstand, 1980, 11f.): "Zur Übersetzung dieses Ausdrucks hat man sich in letzter Zeit des Neologismus ‚referieren (auf? zu? über?) bzw. ‚Referenz (von? über? zu? auf?) bedient. Warum? Wir wissen es nicht. ‚Refer' heißt nämlich schlicht ‚bezeichnen' und manchmal spezifischer ‚sich beziehen auf' bzw. ‚Bezug nehmen auf'. Die Übersetzung durch die genannte Neuprägung ist aber nicht nur unschön, sondern auch irreführend: zum einen, weil sie Homonyme zu (zwei verschiedenen!) gebräuchlichen Ausdrücken einführt, zum andern, weil sie den Eindruck erweckt, es handle sich bei ‚refer' um einen – womöglich klar definierten – Ausdruck der philosophischen oder linguistischen Fachsprache. Das ist nicht der Fall – und deshalb ist die Übersetzung mit ‚referieren', ‚Referenz' usw. irreführend, ja falsch, und wir hoffen, daß sie bald wieder aus dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch verschwindet."
An anderer Stelle hat man dagegen sehr wohl erkannt, daß ein irreführender Anglizismus vorliegt, bei „Künstlicher Intelligenz“, da intelligence eine andere Bedeutung hat als Intelligenz.
Ärgerlich ist sodann, daß dieses Wörterbuch die griechischen Wörter nicht in griechischer, sondern in lateinischer Schrift wiedergibt, ein rechtes Armutszeugnis für Philosophen, die den größten Teil ihres Wissens aus der griechischen Antike beziehen. Jeder Mathematikstudent, jeder Ingenieur kennt das griechische Alphabet, das in jedem Rechtschreibe-Duden enthalten ist und das man spielend in einer Stunde lernen kann, unsere Philosophen aber begnügen sich mit einer kümmerlichen Umschrift, die denn auch oft genug unbestimmt oder gar falsch ist. Auch ist die Transkription der griechischen Wörter keineswegs einheitlich. Einmal heißt es ousía (Wesen), dann usía. Gelegentlich wird die Länge der Silben angegeben, meistens aber nicht; meist wird das Wort übersetzt, manchmal aber nicht, und einige Male fehlt der Hinweis auf den griechischen Ursprung eines Begriffs. Erstaunlicher- und erfreulicherweise werden dagegen gelegentlich moderne griechische Buchtitel in griechischer Schrift wiedergegeben (cf. 209) — warum hat man diesen löblichen Brauch nicht immer geübt? Warum werden die Titel der aristotelischen Schriften nicht auf griechisch zitiert?

Absatz

Walter Brugger (Philosophisches Wörterbuch, Freiburg 1964) schreibt im Vorwort zur ersten Auflage, Mai 1945: „Was es bieten will, ist nicht Belesenheit, sondern Geistesbildung. Nicht darauf kommt es an, jeden Ausdruck, der vielleicht nur selten gebraucht wird zu erklären, nicht darauf, ein Konversationslexikon oder Fremdwörterbuch zu ersetzen, sondern die philosophischen Begriffe, die in die abendländische Tradition eingegangen und im heutigen Philosophieren lebendig geblieben sind, in ihrem sachlichen Zusammenhang darzustellen.“
Damit werden drei Grundsätze formuliert, denen das Wörterbuch gerecht werden soll: 1. will es existentielles Orientierungswissen vermitteln, 2. zeigt es ein ausgeprägtes Traditionsbewußtsein und 3. sollen die fraglichen Begriffe im Kontext von Theorien, in einem argumentativen Zusammenhang erläutert werden. Damit ist auch gesagt, daß in dem Wörterbuch die Begriffe oder philosophischen Konzepte nicht einfach lexikalisch beschrieben, sondern daß die philosophischen Theorien im Hinblick auf ihre Wahrheit beurteilt werden.
Das neue Wörterbuch enthält im Vorwort keine programmatischen Aussagen, doch kann man feststellen, daß die Grundsätze von Brugger auch hier maßgeblich sind, wenn auch wohl alle Artikel neu verfaßt wurden und die inhaltliche Linie des neuen Wörterbuchs sich der veränderten Zeit angepaßt hat. So wurde früher zum Beispiel die Todesstrafe als selbstverständliches Rechtsmittel anerkannt, während davon nun gewiß nicht mehr die Rede sein kann. Die Analytische Philosophie hatte man ohne Bedenken einfach unter den Logischen Positivismus eingeordnet, was nur belegt, daß die damaligen Lexikographen von der Sache nichts verstanden. In dem neuen Band wird die Vielfalt dieser philosophischen Richtung angemesen beschrieben.
Das neue Wörterbuch hat, abgesehen von den genannten Grundsätzen, von der früheren Version nur den Namen übernommen, der ein bekannter, eingeführter Markenartikel ist und die Verbreitung der neuen Fassung erheblich erleichtert.
Alles in allem wird man festhalten dürfen, daß auch das neue Wörterbuch letztlich die Einstellung der christlichen Philosophie zur Geltung bringen möchte, wozu noch einiges zu sagen sein wird. Hier sei nur vorweggenommen, daß in verschiedenen Artikeln der philosophische Ansatz Karl Rahners recht klar beschrieben wird. Wer also das Denken dieses letzten bedeutenden katholischen Theologen verstehen will, tut gut daran, dieses Wörterbuch zu konsultieren.
Das frühere Wörterbuch ist aber insofern noch nicht veraltet, als die meisten Artikel von Johannes Lotz, besonders seine Erklärungen zu Themen der Existenzphilosophie, auch heute noch erhellend sind, jedenfalls sachgerechter als mancher ontologische Artikel der Neufassung.
Als nachteilig wirkt sich auch aus, daß dem Band ein detaillierteres Sach- oder Stichwortregister fehlt. Das vorliegende Begriffsregister ist einfach zu grob eingestellt.
Der am meisten zitierte Philosoph ist übrigens Immanuel Kant. Das heißt aber keineswegs, daß die Verfasser des Bandes Kantianer oder Transzendentalphilosophen seien. Es bedeutet nur, daß Kant der einflußreichste Philosoph unserer Tradition ist und die Begrifflichkeit, die Problemsituation maßgeblich beeinflußt hat.
In den Literaturangaben werden gewöhnlich die Quellenschriften und dann meist nur die wichtigste Sekundärliteratur der letzten zwanzig Jahre genannt. Dahinter steckt die blauäugige Annahme, daß die neueste Sekundärliteratur die Forschungsergebnisse der früheren Jahre getreulich berücksichtigt und verarbeitet hätte – was wohl ein Irrtum ist, der mit dem Mythos des akademischen Fortschritts zusammenhängt, als sei das Neueste auch das Wahre. Dieser Nachteil wird hier aber dadurch bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen, daß bei den Grundbegriffen immer auch Platon, Aristoteles und Thomas berücksichtigt werden. Es bedarf aber keines konkreten Nachweises, daß es falsch wäre anzunehmen, daß die neuesten Kommentare zu diesen Denkern immer auch die besseren Kommentare seien.
So nützlich und aufschlußreich das neue Wörterbuch auch ist — mancher Artikel ist ein zum Weiterdenken anregender Essay —, es enthält doch auch einige unbestimmte Auskünfte, einige verwirrende Informationen und gelegentlich auch offensichtliche Fehler, auf die ich im folgenden aufmerksam machen möchte. Es versteht sich von selbst, daß ich nicht alle Artikel überprüft, sondern nur eine paar Stichproben gemacht habe.

Absatz

Analogie (23ff.) — Analogie ist ein Kernbegriff der Philosophie von Platon, Aristoteles über Thomas bis zu Kant. Was Weissmahr hier aber dazu schreibt, ist unplausibel, verwirrend oder einfach falsch. Das Analogieproblem beschreibt er semantisch „als Eigenschaft der in verschiedener Bedeutung verwendeten gleichlautenden Prädikate“ — was ungenau ausgedrückt ist, denn nicht das Analogieproblem, sondern die Analogie ist mit der genannten Eigenschaft gemeint. Als Beispiel für Homonymie, Äquivokation oder Lautgleichheit führt er Flügel (Körperteil eines Vogels vs. Klaviertyp) an, was wenig passend ist; denn hier liegt nicht nur eine Lautgleichheit, sondern auch eine partielle Bedeutungsgleichheit vor: jenen Klaviertyp nennt man deshalb Flügel, weil seine Form der Schwinge eines Vogels gleicht. Die Benennung geht also auf einen Analogieschluß metaphorischer Art zurück, um mit Jacques Dubois (Allgemeine Rhetorik 1974, 159) zu reden. Ähnlich verhält es sich mit Hahn (männliches Huhn vs. Verschluß einer Leitung) oder Blatt (Pflanze vs. Papier). Bei diesen Ausdrücken haben wir es also mit einem ähnlichen Sinn, aber mit einem anderen Gegenstand zu tun, auf den sich die Ausdrücke beziehen, und solche Bezeichnungen werden analoge Ausdrücke genannt.
Beispiele für echte Homonyme wären dagegen: Strauß (Kampf vs. Blumengebinde vs. Vogel), Schloß (Türverriegelung vs. Palast) oder Spitzen (durchbrochenes Tuchgewebe vs. polemische Aussagen). Die Beispiele zeigen, daß man zwischen mehrdeutigen bzw. analogen und homonymen Ausdrücken unterscheiden muß. Quine fragt, wann "wir es mit zwei Homonymen und nicht vielmehr mit einem mehrdeutigen Wort zu tun haben" und nennt als hinreichende Bedingung die Verschiedenheit der Etymologie. "Manchmal werden aber sogar Wörter mit derselben Etymologie als zwei verzeichnet, nämlich wenn für den typischen Sprecher keine anschauliche Analogie zwischen den Verwendungsweisen mehr besteht." (Wort und Gegenstand 1980, 229)
Weiter schreibt Weissmahr, daß die Lehre der Analogie auf zwei Arten von Homonymie zurückgingen — während man in der Tradition bis heute unter Analogie eine dritte Sprachverwendung neben Homonymie und Univozität verstand, wie Johannes Lotz in dem gleichnamigen Artikel bei Brugger richtig ausführt.
Dann behauptet Weissmahr, klare Eindeutigkeit gebe es nur auf der Ebene des Begriffs und die scholastische Philosophie habe nicht erkannt, daß wir jedes nicht begrifflich als univok definierte Wort „eigentlich immer analog“ verwendeten. — Dazu wäre zu sagen, daß wir selbstverständlich auch in der Umgangssprache ohne begriffliche Definition zahllose Wörter völlig eindeutig verwenden und daß dieser Umstand natürlich auch den scholastischen Philosophen bekannt war. Wie Weissmahr wußten sie auch, daß unsere abstrakten Begriffe „der Erkenntnis der konkreten Wirklichkeit niemals gerecht werden können“. Sie kannten die Grenzen der begrifflichen Erkenntnis, sowohl was die Wesenserkenntnis als auch die Erkenntnis des Individuellen angeht. Thomas erklärt wiederholt: "substantiales differentiae non sunt nobis notae" (die wesentlichen Unterscheidungen der Dinge sind uns nicht bekannt, S th I, 29, 1). Und Joseph Gredt faßt ein Theorem der aristotelisch-thomistischen Philosophie (Nr. 35) in die Worte: "quidditas singularis est extra ambitum cognitionis nostrae" (das singulare Wesen liegt außerhalb der Reichweite unserer Erkenntnis).
Diese Philosophen wußten sehr wohl, daß das Individuelle letztlich unbegreiflich, d. h. begrifflich nicht erfaßbar ist (individuum est ineffabile), was wiederum Weissmahr nicht bedenkt.
Weiter heißt es, „der die Sprache spontan gebrauchende Mensch weiß also um den ontologischen Aspekt der Analogie“ — was wohl auch auf den Philosophen des Mittelalters zutreffen müßte, dem er vorher das entsprechende Problembewußtsein abgesprochen hat.
Seine Behauptung, „die saubere Unterscheidung der verschiedenen Hinsichten“ sei „überall dort, wo es um die letzten Gründe der Wirklichkeit geht, nicht wirklich durchführbar“, kann schon deshalb nicht überzeugen, weil seine begrifflichen Differenzierungen nicht plausibel erscheinen.
Man muß also gegen den Artikel einwenden, daß der Verfasser nicht klar zwischen Homonymie und Mehrdeutigkeit oder Analogie unterschieden hat. Auch hat er nicht gesehen, daß Vagheit und Genauigkeit sich nicht ausschließen: vage Beschreibungen können sachgerechter sein als präzise Fachausdrücke. Zudem hat er vage und mehrdeutige Ausdrücke nicht klar unterschieden (cf. Quine, l.c. 226f.)
Übrigens ist die Literaturangabe der Summa theologica des Thomas hier unvollständig; auch ist die Zitierweise dieses Werkes nicht einheitlich in diesem Wörterbuch.
Wer sich über den Begriff der Analogie informieren will, sei zudem auf den genannten Artikel von Lotz oder auf Johannes Hirschberger (Geschichte der Philosophie 1963, 1,483ff.) verwiesen.
Erwägenswert ist auch der Vorschlag von Wolfgang Künne: er beschreibt die analogische Redeweise im Anschluß an Thomas als sekundäre Verwendungsweise eines Ausdrucks (Abstrakte Gegenstände 2007, 43).
Anthropologie — Es fehlt die Erklärung, daß mit cultural bzw. social anthropology nichts anders gemeint ist als die Ethnologie.
Assoziation (42) — Der Artikel ist im wesentlichen ein Hinweis auf die Theorie von Pawlow und die Lernpsychologie, es fehlt die Kritik an der Theorie der konditionierten Reize und die Kritik an der unzulänglichen Assoziationspsychologie im allgemeinen (cf. die Kritik bei Popper, passim).
auctoritas bedeutet primär nicht Vorbild, sondern Gewähr, Bürgschaft.
Bedeutung (54) — im Sinne von Bedeutsamkeit, Relevanz wird zwar genannt, aber nicht erklärt, d.h. es wird nicht gesagt, daß Bedeutung in diesem Sinn eine kausale Beziehung impliziert: ein bedeutendes Ereignis, ein bedeutendes Werk ist ein Ereignis, ein Werk, das überhaupt Folgen verursacht hat.
Christliche Philosophie (70f.) – Der Artikel, der wohl das Selbstverständnis der Verfasser dieses Lexikons ausdrücken soll, enthält keine wirklich befriedigende Auskunft. Schöndorf gibt einen kurzen Überblick über jene Denker, die ihr Werk als christliche Philosophie verstanden haben. Er resümiert, daß die Philosophie der mittelalterlichen Theologen echte Philosophie gewesen sei: „Denn der Charakter der Philosophie hängt nicht an den persönlichen Überzeugungen des betreffenden Denkers, sondern an ihren Fragestellungen und Methoden.“ Dann referiert er den Einwand Josef Piepers gegen Martin Heidegger, daß man eher fragen müsse, ob ein Atheist ein wahrer Philosoph sein könne. Was die Überzeugungen eines Philosophen angehe, so wäre die Forderung unmoralisch, „jemand dürfe kein ethischen Überzeugungen haben“.
Schließlich behauptet der Autor, die Problematisierung der christlichen Philosophie sei keine philosophische, sondern eine theologische Fragestellung — was alles andere als plausibel ist. Denn wenn die Frage nach der christlichen Philosophie eine theologische Frage ist, dann gibt es keine Philosophie, die man christlich nennen könnte, sondern nur eine Theologie dieser Art, d.h. es gibt nur Theologen, die neben theologischen Problemen auch philosophische Probleme behandeln.
Schöndorf hat nicht eigentlich erfaßt — was Pieper sehr wohl gesehen hat —, daß die Frage nach einer christlichen Philosophie davon abhängt, was man unter Philosophie versteht. Nur wer anerkennt, daß es überhaupt eine Metaphysik bzw. eine natürliche oder eine rationale Theologie gibt, kann sinnvoll fragen, ob es auch so etwas wie eine christliche Philosophie geben kann (cf. J.Q. Angst vor der Religion?).
Heidegger verwirft seinerseits deshalb das Konzept einer christlichen Philosophie, weil derartige Denker seines Erachtens keine echten philosophischen Fragen stellen könnten, da sie die Antwort schon wüßten. Darauf hat Karl Löwith entgegnet, daß ausgerechnet die Grundfrage der Metaphysik, wie sie Heidegger darlegt, eine spezifisch christlich-biblische Frage ist, die kein antiker Philosph jemals verstanden hätte. Er sagt treffend, Heidegger bewege sich innerhalb der christlichen Überlieferung gegen sie (Heidegger, Denker in dürftiger Zeit 1965, 25).
Was das Vorverständnis eines Philosophen angeht, so ist es natürlich richtig, daß man ihm seine Überzeugungen nicht verbieten kann. Doch ist dies nicht die entscheidende Frage, entscheidend ist vielmehr das Problem, ob er seine Überzeugung denn auch rational begründen oder wenigstens doch rational plausibel machen kann – und dieses Problem stellt sich selbstverständlich sowohl für einen agnostischen als auch für einen christlichen Denker. Pieper hat andernorts darauf aufmerksam gemacht, daß sich außerhalb des christlichen Denkens das Problem der sittlichen Verpflichtung kaum lösen lasse, worin ich ihm beipflichte (cf. J.Q. Grenzen einer säkularen Ethik). Dem muß man aber hinzufügen, daß in diesem Fall die ganze Beweislast auf Seiten des christlichen Denkers liegt, der selbstverständlich auch gehalten ist, seinen philosophischen Standpunkt zu begründen.
Mustergültig ist in dieser Hinsicht die Auskunft, die der skeptische Philosoph Bertrand Russell gegeben hat: „Eine ethische Auffassung läßt sich lediglich durch ein ethisches Axiom stützen, doch wird eine rational schlüssige Entscheidung unmöglich, falls dieses Axiom keine Anerkennung findet. Mehr zu sagen, sehe ich mich außerstande.“ (Autobiographie 1974, 3,37).
"Diskurs meint in den romanischen Sprachen (discours, discorso) und dem Englischen (discourse), aus denen dieses Wort übernommen ist, ursprünglich eine Rede." (92)
Treffender wäre, daß der eingedeutschte Ausdruck das Substantiv zu diskursiv ist und diskursiv sich von dem lateinischen discurrere herleitet. Was Diskurs bei Habermas bedeutet, wird erläutert, nicht jedoch der Diskursbegriff von Michel Foucault, der in den Literaturangabe erwähnt wird und dessen Diskursbegriff etwas völlig anderes als das Habermas'sche Modell bedeutet.
Emergenz (102) — Supervenienz wird recht vage umschrieben, es bleibt unerklärt, ob Supervenienz eine notwendige Begleiterscheinung bezeichnet und inwiefern sich ein derartiger Zustand von einem Epiphänomen unterscheidet (cf. J.Q. Zur Diskussion über das Leib-Seele-Problem).
Erkenntnis (112ff.) — „Die E. ist eine Art Abbild oder Repräsentation (lat. Vergegenwärtigung) der Wirklichkeit“, heißt es in einem traditionellen Sinn und weiter in diesem Jargon: „E. ist die Einheit (Identität) des erkennenden Subjekts mit dem erkannten Objekt als solchem.“ (114). Schöndorf ist dem unheilvollen Erkenntnismodell der quasivisuellen Vorstellung und dem daran anschließenden Subjekt-Objekt-Schema des Erkennens samt seinen verwirrenden Folgerungen verpflichtet. Daß erkennen eine propositionale Struktur hat, der Gegenstand des Erkennens kein Objekt in Analogie zu einem Wahrnehmungsobjekt ist, sondern eine Proposition (ich erkenne, daß...) hat er offenbar nicht beachtet (cf. E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie).
„Die ursprüngliche E. ist immer personal. Dies zeigt sich auch am Animismus ursprünglicher Kulturen und kleiner Kinder.“ — Diese Auffassung wurde u.a. von Karl Bühler längst widerlegt: Nicht die ursprünglichen Kulturen oder die Kleinkinder sind primitiv, sondern die hier angenommene Erklärung einiger Philosophen (cf. K. Bühler, Sprachtheorie 1934).
Erleben (119) — „Ich kann nicht nur fragen, 'was ich erlebt habe“, sondern auch 'wie es sich angefühlt hat'.“ (119) In diesem Zusammenhang ist 'sich anfühlen' ein Anglizismus und neben ähnlichen Stellen in diesem Wörterbuch ein weiterer Beleg für die unaufhaltsame Amerikanisierung der Philosophie in deutschen Landen, seit alters ein Ort der geistigen Servilität.
Fehlschluß (132) (gr. paralogismós) — es fehlt die ursprüngliche Bedeutungsvariante: falsche Rechnung.
Form ist die Übersetzung des griechischen Wortes eídos: 'das was gesehen wird' (...)“ (133). — Was wörtlich genommen, einfach falsch ist. Richtig wäre, daß eidos im Lateinischen meist mit forma übersetzt wurde.
Gefühl / Emotion (145f.) — „Der Ausdruck G. (E.serleben) bezieht sich auf die subjektive Erlebnisqualität von E.en“. Der Satz ist unklar formuliert. Genauer müßte es heißen: Mit dem Ausdruck Gefühl (Emotion) bezeichnen wir die subjektive Qualität des Erlebens.
In dem Artikel werden Gefühl und Emotion synonym gebraucht. Es wird nicht der Unterschied beachtet, daß Emotion eine dynamische Konnotation hat, während Gefühl eine statische Bedeutung hat und darüber hinaus meist auch eine Dimension der Tiefe (Th. Haecker, Tag- und Nachtbücher 1989, 83f.; cf. Th. Haecker, Metaphysik des Fühlens).
„Das Besondere am E.serleben ist, daß es sich auf eine bestimmte Weise anfühlt, in einem e.alen Zustand zu sein.“ Der Satz enthält einen Amerikanismus (sich anfühlen) und eine petitio principii, er ist tautologisch und deshalb nicht informativ, weil er voraussetzt, was er erklären soll. Den tautologischen Sinn des Satzes erkennt man besser, wenn man die Aussage ins Deutsche übersetzt: „Das Besondere am Gefühlserleben ist, daß es sich auf eine bestimmte Weise anfühlt, in einem gefühlshaften Zustand zu sein“. Das ist ungefähr so aufschlußreich wie die Auskunft, die Armut komme von der Powerte (pauvreté).
„C. Izard bezeichnet E.en als die grundlegendste Bezogenheit des Menschen auf Wirklichkeit.“ Diese Einsicht stammt ursprünglich nicht von Izard, wie hier in dem typisch unbestimmten Stil dieses Wörterbuchs nahegelegt wird, sondern von Martin Heidegger, es ist eine seine originellsten Einsichten, die man ihm nicht streitig machen sollte. — Auch ein Gedanke von Haecker wäre hier beachtenswert: „Das Fühlen ist sozusagen die erste primäre Seinsweise des vollen Seins als Geist.“ (Th. Haecker, Tag- und Nachtbücher 1989, 53). Nicht weniger bedeutend ist, daß Haecker den elementaren Fähigkeiten des menschlichen Geistes spezifische normative Grundbegriffe zuordnet: "Wahrhaftig, wie gut und böse zum Wollen, wie wahr und falsch zum Denken, so gehört selig und unselig zum Fühlen." (l.c. 53)
„Was verleiht dem G. seine spezifische Erlebnisqualität und wie kommt diese zustande?“ Eine weitere ungeschickte, genau genommen wiederum tautologische Formulierung des Wörterbuches. Genauer wäre die Frage: Wie kommt die spezifische Qualität des Erlebens, die wir Gefühl nennen, zustande? Oder: Was verursacht den eigenartigen subjektiven Charakter unserer psychischen Zustände?
Geschichte (162f.) — nützlich wäre ein Hinweis auf Wilhelm Schapp gewesen, der Geschichte als den grundlegenden Begriff der Anthropologie auffaßt (In Geschichten verstrickt).
Geschichtsphilosophie (165) — Es ist von dem „Kollektivsingular 'die Geschichte'“ die Rede, ohne daß auf Reinhart Koselleck verwiesen würde, der den Terminus und das damit bezeichnete Phänomen beschrieben hat.
Historismus (204) — Haeffner spricht zwar von der Gefahr einer historistischen Relativierung, artikuliert aber nicht ausdrücklich die Frage nach der objektiven Wahrheit, die von einer historistichen Weltanschauung entweder ignoriert oder geradezu verneint wird. Auch erwähnt er nicht, was mit Historizismus (K. Popper) gemeint ist und wie sich dieser Begriff vom Historismus unterscheidet.
Horizont (205) — „orízein“ → horízein
Implikation (221) — „(lat. implicare: zusammenflechten)“ – was nicht ganz stimmt, da implicare seit altersher und immer noch einwickeln, verwickeln oder verflechten heißt.
Interesse (230f.) — Das Wort wird nicht erklärt, Kant wird zwar zitiert, sein Gebrauch des Begriffs aber nicht erläutert. Hier wäre die Erklärung Schopenhauers angebracht gewesen: „Interesse und Motiv sind Wechselbegriffe: heißt nicht Interesse 'quod mea interest', woran mir liegt? Und ist dies nicht überhaupt alles, was meinen Willen anregt und bewegt? Was ist folglich ein Interesse anderes als die Einwirkung eines Motivs auf den Willen? Wo also ein Motiv den Willen bewegt, da hat er ein Interesse: wo ihn aber kein Motiv bewegt, da kann er wahrlich sowenig handeln, als ein Stein ohne Stoß oder Zug von der Stelle kann. (…) Hieraus aber folgt, daß jede Handlung, da sie notwendig ein Motiv haben muß, auch notwendig ein Interesse voraussetzt.“ (Über die Grundlage der Moral §8)
Gemäß dieser Erklärung muß man gegen den Artikel des Wörterbuchs auch einwenden, daß man Interesse nicht ohne weiteres mit Selbstsucht oder Eigennutz gleichsetzen kann.
"Interpretation meint die Handlung und ihr Resultat, nämlich etwas, was unverständlich ist, so zu deuten, daß es verstanden werden kann." (231) — Diese seltsame Definition paßt auf die logische Interpretation, wo es darum geht, bestimmten uninterpretierten Zeichenfolgen eine Bedeutung zuzuordnen (E.Tugendhat/ U.Wolf, Logisch-semantische Propädeutik 1983, 230), und kurioserweise auch auf esoterische Phänomene wie Sterndeuten, Handlesen; sie paßt nicht auf die üblichen Gegenstände der Interpretation, nämlich auf sprachliche und sprachähnliche Äußerungen, in erster Linie also auf Texte, im Sinne des wahrhaft bedenkenswerten Fundamentalsatzes der hermeneutischen Philosophie Gadamers: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ (Wahrheit und Methode 1965, XX).
Kontingenz (249) — Zur Abwechslung möchte ich erwähnen, daß dies ein mustergültiger, aufschlußreicher Artikel von Schmidt über einen häufig gebrauchten, aber oft unverstandenen Begriff ist.
Konvergenz (254) — „In der analytischen Religionsphilosophie besagt die Konvergenzargumentation, daß die verschiedenen Argumente für die Existenz Gottes nicht einzeln, aber zusammengenommen die Existenz Gottes wahrscheinlicher machen als seine Nicht-Existenz.“ Dem wäre entgegenzuhalten, daß die Kritiker der Religion das gleiche Konvergenzargument für sich in Anspruch nehmen können (cf. Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie 1989, 4,452). Daraus folgt, daß das Konvergenzargument nicht viel taugt. Meines Erachtens können sowohl die Befürworter wie die rationalistischen Gegner der Religion nicht umhin, mindestens ein wirklich überzeugendes rationales Argument für ihre Auffassung vorzubringen.
Kultur (258) — „Sofern K. von Zivilisation unterschieden wird, bedeutet letzte die Gesamtheit funktionaler Errungenschaften (äußere, materielle K.), die der inneren K. Zur Voraussetzung und Grundlage dienen“.
Eine wenig einleuchtende Erklärung. Zivilisation wurde während des Ersten Weltkriegs polemisch der Kultur entgegengesetzt, aber nicht nur als äußere Kultur, sondern als eine andere innere Einstellung: politisches Interesse, gesellschaftliches Engagement, Demokratie, rationales Denken, gewandte Manieren wurden als Phänomene der Zivilisation betrachtet und als Gegensätze zur gemüthaften Innerlichkeit kritisiert (cf. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen). Dieser feuilletonistische Begriff der Innerlichkeit hat natürlich nichts mit dem existenzphilosophischen Begriff der Innerlichkeit bei Kierkegaard zu tun. Das Stichwort kommt in diesem Wörterbuch übrigens nicht vor.
Leib-Seele-Problem (270) — „Das L.-S.-P. ist nur 'lösbar', wenn Geist und Materie nicht nur Gegensatz, sondern auch als aufeinander bezogen aufgefaßt werden, und dem Leben eine vermitelnde Position zwischen beiden zuerkannt wird. Dies bedeutet keinen Panpsychismus, sondern die Überzeugung, daß auch die Materie Elemente des Geistes in sich trägt, was sich schon daran zeigt, daß sie mathematischen Gesetzen gehorcht.“
Eine überaus starke, gehaltvolle These ohne den kleinsten Ansatz einer Begründung. Schöndorf referiert einige Positionen der irrigerweise so genannten Philosophie des Geistes, die Argumente, die Popper und Eccles für die Wechselwirkung von Gehirn und selbstbewußtem Geist vorbringen, erwähnt er aber nicht, obwohl ihr Buch verzeichnet ist (cf. J.Q. Zur Diskussion über das Leib-Seele-Problem).
Letztbegründung (273) – „Hölse“ → Hösle
Mensch (292) — leider hat man die kühne etymologische Hypothese aus Bruggers Wörterbuch nicht mehr übernommen, Mensch bedeute ursprünglich so viel wie denkendes Wesen. Auch wird weder das griechische noch das lateinische Wort erklärt.
Metapher (298) — „Werden verschiedene Gestalten (meist Personen) als Metaphern für Lebenshaltungen, Kollektive (z.B. Völker) geistige Werte oder Unwerte oder dergleichen verwendet, so spricht man von Allegorien.“ — Eine recht obskure Definition, die, genau genommen, nicht zutrifft: Staatsschiff, die Kirschen der Freiheit sind keine Allegorien, sondern Metaphern. Später (484) wird diese Bestimmung aber durch eine angemessene Definition der Allegorie konterkariert.
Nominalismus (333) — „Die durch logische Antinomien erwiesene Widersprüchlichkeit des uneingeschränkten Begriffsrealismus hat in neuester Zeit zu nominalistischen Systemen (Sellars, Quine, Goodman) (…) geführt, wobei sich diese Systeme freilich oft als ungenügend für die Grundlegung der gesamten Mathematik erwiesen haben.“
Ein ärgerlicher Eintrag, der das ganze Buch entwertet. Was Carls hier und S. 527 von Quine und Goodman behauptet, ist nämlich offensichtlich falsch. Quine war es, der in der modernen Philosophie vielmehr das klassische Universalienproblem aufgegriffen und neu formuliert hat. Er hat ausdrücklich betont, daß er selbst einen Universalienrealismus vertrete, d.h. die Existenz von abstakten Gegenständen annehme. Von sich und Goodman schreibt er: „Wie wir feststellten, hat der Formalist es bereits mit Universalien zu tun, wenn er von Ausdruckstypen handelt. Ein Formalismus von Einzelzeichen leistet zwar Beträchtliches, ist aber nicht zureichend für eine vollständige Beweistheorie. Sieht man vom Vogel Strauß ab, ist der Nominalismus einem modernen wissenschaftlichen Weltsystem offensichtlich nicht adäquat.“ (Theorien und Dinge. Dt. J. Schulte. 1991, 221)
Pädagogik (345) — der unzulänglichste Artikel des Wörterbuchs, ein Sammelsurium hehrer Begriffe, ohne daß der Versuch gemacht würde, sie einsichtig zu erklären oder systematisch zu gliedern, eine Karikatur der Bildung, die an dieser Stelle hätte expliziert werden müssen. Der Artikel ist die Visitenkarte einer Pseudowissenschaft, die ihre Grundlagen von anderen Wissenschaften bezieht und notorisch anfällig ist für Ideologien und die Launen des Zeitgeistes — siehe die häufigen, kläglichen Schulreformen.
Der Eintrag bestätigt, was Dietrich Schwanitz über die Lehrerausbildung schreibt: „Sofern es aber ein Begleitstudium der Pädagogik auf der Uni gibt, lernt man darin fast nichts; es ist reine Zeitverschwendung, eine bürokratische Kopfgeburt, die die Studenten nur Zeit kostet und sie deprimiert. Natürlich weiß das jeder. Aber was macht man mit den pädagogischen Instituten und den Professoren?“ (Bildung 1999, 30)
Der Philosoph Max Scheler sagte einmal: „Ich habe mich niemals pädagogisch verhalten“ — das ist es, was der Verfasser dieses Artikels nicht verstanden hat.
Phänomenologie (357) — „in ihrer voller Reinheit“ → vollen Reinheit. Es wird behauptet, daß der platonische Dogmatismus „die Ideen hypostasiert“ — eine unzulängliche Beschreibung. Wenn damit die platonische Annahme, daß es abstrakte Gegenstände gibt, gemeint sein sollte, wäre damit gesagt, daß die Phänomenologie diese Annahme bestreite. Dieser Zusammenhang bleibt hier völlig unerklärt, und Husserl ist ganz gewiß kein Nominalist.
Positivismus (370) — Man vermißt einen Hinweis auf die zentrale These des logischen Positivismus, daß es ein Kriterium gebe, um sinnvolle Sätze von sinnlosen oder unsinnigen Sätzen zu unterscheiden.
Postmoderne (371) — Es fehlt ein Artikel über das weitaus bedeutendere, problematischere und komplexere Phänomen der Moderne. (cf. J.Q. W.Koeppen im Kontext der Moderne).
Reduktion (396) "to adúnaton" → to adýnaton
Reflexion (400) — „Denn sie ist nicht die Schaffung einer neuen Ebene, die dann zu beliebig weiteren neuen Ebenen führen könnte, sondern das ausdrückliche Bewußtmachen und -werden des Subjekts und der Tätigkeit eines Erkenntnis- oder Willensaktes.“
Diese Behauptung wird nicht begründet. Der Autor versteht unter Reflexion die folgende Einstellung:
(1) Ein Subjekt ist sich seines geistigen Zustands bewußt.
Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, ob ein Subjekt nicht auch über diese Einstelltung (1) reflektieren kann, so daß gilt:
(2) Ein Subjekt ist sich des Zustands bewußt, daß es sich seines geistigen Zustands bewußt ist. — usw.
Dieses Problem eines unendlichen Regresses wird hier nicht gelöst, und was soll das „Bewußtmachen des Subjekts“ denn bedeuten? Außerdem gebraucht der Verfasser den Begriff der reditio completa, ohne die mystische Herkunft und Konnotation des Begriffs zu erwähnen oder zu erklären.
Schmerz (419) — Es wird nur der Schmerz aufgrund einer Körperverletzung beschrieben, nicht aber der Schmerz aufgrund einer seelischen Verletzung, der weitaus heftiger erlebt werden kann, als eine körperliche Verletzung, z.B. der Tod von Angehörigen, der Verrat eines Freundes, eine schändliche Verleumdung u.ä. Der Artikel über Leiden füllt diese Lücke nicht aus.
Sein (429) — zweifellos das tiefste und schwerste Thema der ganzen Philosophie. Dazu steuert der Artikel immerhin ein paar diskutable Annahmen bei. Es geht ihm eher darum, zu dem Phänomenbereich hinzuführen, als um die genaue Explikation der verschiedenen Aussageweisen des Seins.
Nicht überzeugend begründet z.B. ist die Behauptung, daß es unmöglich sei, etwas zu finden, das dem Sein schlechthin entgegengesetzt sein könnte. Zweifeln kann man auch an dem Statement, daß das veritative Sein „durch die Tätigkeit des Verstandes entsteht“.
Situation / Situationsethik (444f.) — Der existenzphilosophische Begriff der Situation, den Jaspers und Sartre geprägt haben, ein Begriff, der in der Folge die Philosophie, die Zeitdiagnose und die Kulturkritik des 20. Jahrhunderts beherrscht hat und heute keineswegs verschwunden ist, wird hier nicht erklärt.
Stimmung (471) — Dem Autor ist die philosophische Pointe einer der originellsten Einsichten Heideggers entgangen, nämlich daß Stimmungen eine welterschließende Funktion haben.
Theorie (503f.) — „Die Tatsache daß Beobachtungen selbst theoriegeleitet sind, sowie die wissenschaftliche Praxis stehen aber in Widerspruch zu Poppers Konzept.“
Eine eindeutig falsche Information, denn Popper, nicht erst Thomas Kuhn (552) war es, der gesehen hat, daß jede Forschung theoretische Konzeptionen voraussetzt und daß jede brauchbare Beobachtung von theoretischen Fragestellungen abhängt, daß jede Beobachtungssprache Begriffe, d.h. theoretische Implikationen enthält. Popper hat auch das Problem der Zirkelhaftigkeit seiner Auffassung klar gesehen und darauf mit seiner These geantwortet, daß eine Theorie nur widerlegt, nicht aber endgültig bestätigt werden kann: „Obgleich es im allgemeinen zutrifft, daß wir nur solche Theorien auswählen, die mit irgendeiner vorgefaßten Theorie zusammenhängen so stimmt es doch nicht, daß wir nur solche Tatsachen auswählen, die die Theorie bestätigen oder die sie gleichsam wiederholen; die Methode der Wissenschaft besteht vielmehr darin, daß man sich nach Tatsachen umsieht, die zur Widerlegung der Theorie dienen können.“ (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2,305. 1992)
Tod (508) — Der Artikel verliert sich ins Erbauliche, die profanen Überlegungen Heideggers, Sartres oder E. Tugendhats zum Thema werden nicht erwähnt oder berücksichtigt.
Tradition — J. Pieper hatte einst moniert, daß in Bruggers Wörterbuch dem Begriff der Tradition kein Artikel gewidmet worden war. Das hat man nun korrigiert. Doch fehlt diesem ein wenig kursorisch geratenen Artikel der wichtige Hinweis auf eine „rationale Theorie der Tradition“, wie sie Popper skizziert hat. Seine Hauptthesen lauten: 1. Traditionen sind vermittelnde Glieder zwischen den Institutionen und den Individuen einer Gesellschaft, 2. auch die rationale oder wissenschaftliche Kritik der Tradition ist auf Traditionen angewiesen und 3. die Bedeutung einer intakten Sprache sowohl für den Bestand als auch für die Kritik der Traditionen (Vermutungen und Widerlegungen 2000, 175ff.).
Aus ideengeschichtlicher Sicht wäre auch ein Hinweis angebracht gewesen auf den Aufsatz von Gershom Scholem: „Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum“ (Über einige Grundbegriffe des Judentums 1976, 90ff.).
Transzendentalphilosophie (515) — „Eine andere Weiterführung der T. ist die von Apel und Habermas begründete und von Kuhlmann weitergeführte Transzendentalpragmatik“. Was nicht ganz stimmt; denn Habermas vertritt keinen transzendentalphilosophischen Ansatz, sondern eine sogenannte Universalpragmatik.
Verstehen (544) — Aufschlußreich wäre der Hinweis auf den einzig befriedigenden, gehaltvollen Begriff des objektiven Verstehens von Gadamer gewesen. Danach ist Verstehen ein vierstelliges Prädikat und bedeutet: sich mit jemand im Medium der Sprache in einer Sache verständigen (Wahrheit und Methode 1965, 362).
"Voraussetzung ist ein typisch deutscher Ausdruck, für den es in vielen anderen modernen Sprachen kein oder nur ein relativ künstlich wirkendes exaktes Äquivalent gibt, da das vom gr. hypóthesis stammende Wort Hypothese im Allgemeinen eine andere Bedeutung gewonnen hat." (552)
Die Auskunft kann nicht recht überzeugen, da das deutsche Wort nicht nur ein Synonym für Hypothese ist, sondern, wie Grimms Wörterbuch verzeichnet, zunächst wohl eher eine Übersetzung von presuppositione (ital.) ist; voraussetzen wäre die Verdeutschung von praesupponere (lat.), was zugrunde legen bedeutet. Etwas voraussetzen hieße etwas als wahr oder wirklich annehmen — was bestimmt kein spezifich deutscher Begriff ist.
Wahrheit (558) — „Die klassische Definition für die W. stammt von Thomas v Aquin und lautet: 'Veritas est adaequatio intellectus et rei' (Die W. Ist die Angleichung/Entsprechung von Intellekt und Sache; S th I, 21, 2). (…) Aristoteles formuliert dasselbe verbal, wenn er über W. schreibt: 'Denn zu behaupten, das Seiende sei nicht oder das Nichtseiende sei, ist falsch. Aber zu behaupten, daß das Seiende sei und das Nichtseiende nicht sei, ist w.'“
Diese Auskunft ist in mehrfacher Hinsicht unkorrekt. Die klassische Definition der Wahrheit stammt nicht von Thomas, er hat sie nur überliefert, wie ein paar Sätze weiter denn auch richtig angegeben ist. Thomas schreibt in S th I, 16, 1: „veritas est adaequatio rei et intellectus“, nicht an der angegebenen Stelle S th I, 21, 2, wo es heißt: „... quod veritas consistit in adaequatione rei et intellectus“.
J. Hirschberger behauptet auch nicht einfach, daß die Formel von Avicenna stamme, wie es hier heißt – er schreibt vielmehr, sie werde von Avicenna abgeleitet und anonym zitiert bei Wilhelm von Auxerre u. a., was ja doch einer weiteren philologischen Klärung bedarf.
Jan Wolenski zitiert Avicenna: "veritas intelligitur dispositio in re exteriore cum est ei aequalitas", und die Erklärung des Wilhelm von Auvergne: "et hoc [intentio veritas (!)] ait Avicenna, est adaequatio orationis et rerum" (J. Wolensky, Essays in the history of logic and logical philosophy, 1999, referiert auf der Website: www.ontology.co/veritas.htm).
Nicht zutreffend ist schließlich die Erklärung, daß Aristoteles in dem Zitat dasselbe behaupte wie die angegebene Definition. Diese Definition enthält einen relationalen Begriff, die Erklärung des Aristoteles aber nicht (cf. W. Künne, Conceptions of truth 2003). Das ist der schwerste Einwand gegen diesen Artikel. Aristoteles formuliert verbal eben nicht dasselbe, was in der Korrespondenzdefinition der Wahrheit gesagt wird; er formuliert, wie Schöndorf behauptet, allenfalls sinngemäß dasselbe. Aber selbst dies trifft nicht zu, was zeigt, daß der Autor das Problem der Korrespondenztheorie nicht eigentlich erfaßt hat.
Wahrheitstheorie (563) — „Für Habermas ist Wahrheit in seiner Konsens- oder Diskurstheorie ein Geltungsanspruch von Aussagen ...“. Es fehlt die wichtige Information, daß der späte Habermas seine Einstellung in diesem Punkt geändert und den objektiven Wahrheitsbegriff der Korrespondenztheorie der Wahrheit anerkannt hat: „Der Diskursbegriff der Wahrheit ist also nicht geradehin falsch, aber unzureichend“ (Wahrheit und Rechtfertigung 1999, 290; cf. J.Q. Wenn das Denken feiert, S.108f.).
Außerdem fehlt in dem Artikel des Wörterbuchs der Hinweis, daß die Konsenstheorie der Wahrheit ein Moment der Dezision enthält, was der Idee der geforderten objektiven Begründbarkeit der Wahrheit offensichtlich widerspricht (E. Tugendhat/ U.Wolf, Logisch-semantische Propädeutik 1985, 238).
Welt (566f.) — Ein enttäuschender Artikel, weil die naheliegenden oder erklärungsbedürftigen Bedeutungsnuancen des Ausdrucks nicht erwähnt werden: 1. der übliche Begriff: Welt als Gesamtheit der Dinge und Ereignisse, 2. Wittgensteins Begriff: Welt ist alles, was der Fall ist, 3. Poppers und Freges Dreiteilung der gesamten Welt in eine Welt der physischen Dinge, eine Welt mentaler Zustände und eine Welt abstrakter Gegenstände, 4. der überaus folgenreiche und dominante christliche Begriff: Welt als Gegensatz zu Reich Gottes.

Absatz

Der zweite Teil des Wörterbuchs bringt einen Abriß der Geschichte der Philosophie. Er dürfte in seiner Art einzig sein, ein klarer und informativer Überblick über die Geschichte der Philosophie, eine Orientierung über das Denken der Menschheit, ein umfassender Plan über die menschlichen Wahrheitsbemühungen, wie man sich ihn kaum besser vorstellen kann. Die Übersicht folgt einer Einteilung, die vier Gesichtspunkte miteinander kombiniert: die zeitliche Abfolge, verschiedene Kulturen (Indien, China, Japan, Abendland), philosophische Richtungen, philosophische Disziplinen (Logik, Metaphysik, Ethik, Naturphilosophie).
Zu dieser erdrückend reichen und detaillierten Tabelle wäre im einzelnen viel zu sagen. Ich möchte hier nur ein paar Anmerkungen machen. Ich hätte E.M. Cioran, den Kritiker des Existentialismus und den Gegner eines Denkens, das der Geschichte verhaftet ist, nicht unter die Französische Existenzphilosophie eingeordnet (cf. J.Q. Versuch über Cioran).
Zweitens halte ich es für einen Irrtum, daß Umberto Eco umstandslos zur Postmoderne gerechnet wird. Eco ist viel zu kritisch, um die Fragwürdigkeit der Postmoderne nicht zu durchschauen.
Auch ist die Klassifizierung Oswald Spenglers mehr als abwegig. Der fragwürdige Denker wird neben Max Scheler, einem ernstzunehmenden Philosophen, zur werttheoretischen Richtung der Pänomenologie gerechnet! Und um die Verwirrung komplett zu machen, werden die Werke Schelers auch noch infolge eines Satzfehlers unter dem Namen Spenglers aufgeführt.
Schließlich kann man angesichts der Namen, die unter „Andere Richtungen“ aufgeführt wurden, weil sie nicht so recht in die übrigen Rubriken passen, wirklich ins Grübeln kommen. Wenn man hier die Namen von Dieter Henrich, Franz von Kutschera, Herbert Schnädelbach oder Manfred Frank liest, stellen sich zwei Fragen: Kann man sie wirklich keiner philosophischen Richtung zuordnen? Und sind die universalen Geister, die man in kein Spezialfach unterbringen kann, nicht die echten Philosophen?

J.Q. — 1. April 2014 / Ergänzt 18. Dez. 2014

©J.Quack


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