Josef Quack

Brief über die Psychoanalyse




In den USA gibt es mehr Psychoanalytiker als Briefträger.

H.Haefs, Handbuch des nutzlosen Wissens

Liebe Leute,

ich will doch noch zusammenhängend etwas über die Psychoanalyse sagen. In Lesen um zu leben (S.191) hatte ich behauptet, daß man mit allen Menschen reden könne, nur nicht mit Psychoanalytikern. Ich kannte tatsächlich zwei Kollegen, mit denen man über alles reden konnte, nur nicht über Psychoanalyse. Sobald man etwas Kritisches darüber sagte, wehrten sie ab. Sie akzeptierten keine vernünftigen Argumente, sondern beharrten unbelehrbar auf ihrem unfehlbaren Standpunkt — was natürlich unvernünftig und unwissenschaftlich ist.

Als Student war ich selbst auch an der Psychoanalyse interessiert. 1968 erschien nämlich von Alexander und Margarete Mitscherlich das Buch Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. Darin wird die These vertreten und ausgedeutet, daß die Deutschen nach dem Unglück des Krieges und der Hitlerzeit unfähig seien zu trauern. Die These geht auf Beobachtungen der Romanciers Heinrich Böll und Wolfgang Koeppen zurück — deshalb hat sie mich interessiert. Die Erklärung Mitscherlichs war allerdings höchst fragwürdig, weil er den methodischen Fehler beginn, eine Theorie individuellen Verhaltens, nämlich die Psychologie, auf kollektives Verhalten anzuwenden. D.h. er hat den wesentlichen Unterschied zwischen Soziologie und Psychologie nicht beachtet.

Damals kam der Begriff der Trauerarbeit auf, der nicht nur unschön ist, sondern auch dem Wesen der Trauer widerspricht: trauern, eine emotional bestimmte Einstellung des Bewußtseins, ist keine Arbeit, und Traurigkeit ist keine Krankheit. In dem Buch über Simenon habe ich das Thema ausführlich besprochen (J.Q., Über Simenons traurige Geschichten).

In der kulturellen Öffentlichkeit wurde die Psychoanalyse aber in den siebziger Jahren durch Mitscherlich und seine Kollegen bei uns eine Modewissenschaft und er ein große Autorität in den Medien und für die Medien. Er kam von Heidelberg nach Frankfurt an die Uni, wo er samstags morgens um sieben Uhr seine Vorlesung hielt, die überlaufen war!

In Amerika war die Psychoanalyse schon früher Mode geworden. Das ging so weit, daß man in den siebziger Jahren forderte, alle politischen Führer sollten, bevor sie die politische Laufbahn einschlagen, von einem Ausschuß von Ärzten und Psychiatern geprüft werden, "um sicher zu gehen, daß sie in Geist und Körper gesund seien" (zit. bei K. Harpprecht, Im Kanzleramt 2001, 250). Daß Psychologen über die geistige Gesundheit von Politikern entscheiden sollten, war natürlich eine völlig unsinnige Anmaßung, die denn auch abgewehrt wurde. Denn hier drängt sich die Frage auf, ob Psychoanalytiker, als Vertreter einer unwissenschaftlichen Theorie, die geeigneten Experten seien, die über geistige Gesundheit entscheiden könnten. Und es stellt sich das weitere klassische Problem, das praktisch unlösbar ist: Quis custodit custodes? (Wer bewacht die Wächter?), d.h. wer entscheidet, ob denn die begutachtenden Psychiater selbst geistig gesund sind?

Aus der deutschen Gerichtschronik sind bis in die jüngste Zeit skandalöse Urteile bekannt, durch die völlig normale Menschen aufgrund haarsträubend falscher Gutachten jahrelang in geschlossenen Anstalten weggesperrt wurden. Nach dem Krieg war es, aufgrund einer allgemein anerkannten autoritären Psychologie, auch in kirchlichen Waisenhäusern, Brauch, ungehorsame Jugendliche, die man für aufsässig hielt, wie geistig Irre zu behandeln.

In jenem Wunschsinne der amerikanischen Psychiatrie aber hat Mitscherlich bei einem Wahlkampf öffentlich im Fernsehen Psychogramme oder psychologische Gutachten über Politiker der CDU gegeben — was ich für ungehörig und unvereinbar mit der ärztlichen Ethik hielt, obwohl ich kein Anhänger jener Partei war.

In Amerika aber hatten die Psychologen doch eine gewisse gesellschaftliche Macht erlangt, sonst wäre jener annmaßende Vorschlag nicht möglich gewesen. Zum Beispiel mußten Ehepaare von Gerichts wegen bei bestimmten Problemen einen Psychiater oder Psychologen aufsuchen. Als Reaktion wurden sie dann in amerikanischen Filmen oft verspottet und lächerlich gemacht.

Ich habe als Student und noch später viel Freud gelesen, um sozusagen mitreden zu können, wenn die Modewissenschaft in diesen Jahren der hitzigen Diskussionen aufs Tapet kam. Wie sehr die Psychoanalyse damals eine Modeerscheinung war, ersieht man auch daraus, daß sie für Jürgen Habermas, den führenden Kopf der Frankfurter Schule in diesen Jahren, eine Art Leitwissenschaft wurde. Auf sie gestützt, konzipierte er eine kuriose sogenannte Tiefenhermeneutik, um das Phänomen der gestörten Kommunikation zu deuten und zu erklären — im bewußten Gegensatz zur hermeneutischen Philosophie Hans Georg Gadamers. Daß Habermas die klassische Theorie des literarischen, historischen, rechtlichen Verstehens durch die krude Lehre Freuds überbieten wollte, ist wohl der größte Irrtum seiner geistigen Biographie gewesen (Hermeneutik und Ideologiekritik 1971, 147). In seinem späteren Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns (1981) kommt Freud nur noch am Rande vor. — Die Tiefenhermeneutik war damals der letzte Schrei der Germanistik. Heute weiß kein Mensch mehr, was das ist.

Am meisten wurde in den sechziger Jahren Freud wohl von Michel Foucault überschätzt. Er behauptet in der Ordnung der Dinge, einem Buch über die Geschichte der Leitbilder in den Humanwissenschaften, allen Ernstes, das Werk von Freud habe das Bild vom Menschen während eines ganzen Jahrhunderts der abendländischen Kultur geprägt — was sich ganz gewiß nicht für die Philosophie behaupten läßt, weder für die Existenzphilosophie, noch für die sprachanalytische Philosophie und erst recht nicht für den Kritischen Rationalismus. Karl Popper und Ludwig Wittgenstein waren vielmehr strenge Kritiker Freuds (cf. J.Q., Die fragwürdige Identifikation, S.184).

Meine Kritik an der Psychoanalyse wurde durch das Buch und das erwähnte Auftreten Mitscherlichs angeregt. Auch wurde mir durch die philosophischen Argumente Poppers klar, daß sie gerade deshalb unwissenschaftlich ist, weil sie alle psychischen Phänomene erklären zu können beansprucht und nicht widerlegt werden kann — was kein Wesensmerkmal einer wissenschaftlichen Theorie ist. Er schreibt, die Theorien von Freud und Adler „waren mit allen nur möglichen Formen menschlichen Verhaltens vereinbar, so daß es praktisch unmöglich war, ein menschliches Verhalten zu beschreiben, das nicht als Verifikation dieser Theorien in Anspruch genommen werden konnte“. Und ironisch fügt er hinzu: „Freuds Epos vom Ich, Über-Ich und Es kann kaum mehr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben als Homers Sammlung von olympischen Skandalgeschichten. Als Theorien erklären sie einige Tatsachen, aber nach Art und Weise von Mythen. Sie enthalten hochinteressante Gedanken über psychologische Probleme, aber leider nicht in prüfbarer Form.“ (Vermutungen und Widerlegungen 2000, 51; 53f.)

Überdies erfuhr ich, daß Freud eine rein mechanistische Trieblehre vertritt. Nicht zuletzt wurde mir klar, daß seine Erklärung des Phantastischen und des Unheimlichen falsch oder ungenügend sein muß, als ich eine Studie über E.T.A. Hofmann schrieb (J.Q., Künstlerische Selbsterkenntnis). Auch seine Theorie des Witzes ist höchst anfechtbar. Er hat nicht erkannt, daß ein guter Witz durch eine Wiederholung seinen Reiz nicht verliert. Seine Studie läßt nur zu sehr durchblicken, daß er keinen Spaß verstand.

Vor allem kann seine Kernthese nicht stimmen, daß alle emotionalen Beziehungen des Menschen eine sexuelle Komponente hätten. Dies ist wohl seine falscheste und gefährlichste Lehre, sie übersieht sowohl das biologisch-animalische Erbe als auch die geistige Anlage des Menschen. Und was die geistige Seite angeht, so kennt er einen Begriff des Liebens nicht, der überhaupt keinen Affekt enthält: lieben als „bene velle“, jemand wohl wollen, wie Thomas von Aquin erklärt. Nach diesem Verständnis ist das biblische Gebot, die Feinde zu lieben, kein Paradox.

Hier kann ich auch an die folgende Anekdote erinnern: „In einer afrikanischen Gemeinde wollte man eine Kirche bauen und dazu aus dem einheimischen Kult den ‚heiligen Baum‘ übernehmen. Dem widersprach der anglikanische Bischof, der Freud gelesen hatte, mit dem Argument, der Baum sei ein Phallus-Symbol. Ihm erwiderte ein junger Priester, der Religionswissenschaftler Mircea Eliade habe dargelegt, daß der Baum ein Symbol für die ‚Achse der Welt‘ sei. Der Bischof ließ sich überzeugen und der Baum kam in die Kirche.“ (J.Q., Lehrjahre, S.118).

Die Kritik Hoimar von Ditfurths in der Innenansicht eines Artgenossen kann nicht unerwähnt bleiben, er betont vor allem die angeborenen Dispositionen des Menschen, wie die Angst im Dunkeln, die Distanz zu Fremden, und die physischen Ursachen einiger Krankheiten wie etwa der Schizophrenie, die man früher als wesentlich seelische Krankheit deutete.

Vor wenigen Jahren habe ich auch zu meinem Erstaunen erfahren, daß es eine Form des Stotterns gibt, die auf einen Gendefekt zurückgeht, und deshalb anders behandelt werden muß als das Stottern, das zum Beispiel durch repressive Einflüsse auf das Kind verursacht wurde. Darüber habe ich jüngst noch einen Logopäden, einen alten Schulkameraden, befragt. Kürzlich habe ich auch die Vermutung gelesen, daß die Depression physische Ursachen, eine spezifische Infektion des Darms, haben könnte.

Übrigens hat Ditfurth durch seine Bücher und Fernseh-Sendungen den Gründer von "Biontech" zu seinem Beruf und zu seiner Forschungsrichtung angeregt! Ein verdienstvoller Mann.

Zu all dem muß ich aber sagen, daß ich von vornherein skeptisch gegenüber Freud eingestellt war. Ich schrieb meine Dissertation nämlich über Karl Kraus, der ein Zeitgenosse Freuds in Wien und sein erster Kritiker war. „Die Psychoanalyse ist jene Krankheit, für deren Therapie sie sich hält“, heißt ein bekannter Aphorismus von Kraus. Er hat vor allem die falsche Deutung der Kindheit kritisiert: „Den Weg zurück ins Kinderland möchte ich, nach reiflicher Überlegung, doch lieber mit Jean Paul als mit S.Freud machen.“ Vehement hat er der psychoanalytischen Auffassung widersprochen, daß die Kunst auf die Sublimierung oder Kompensation verdrängter oder unterdrückter Leidenschaften zurückgehe — was tatsächlich absurd ist und jeder Erfahrung widerspricht. Im Endeffekt werden mit dieser These alle genialen Künstler zu Neurotikern erklärt. Dazu meint Adorno mit Recht, diese Lehre entstamme der „Banausie feinsinniger Ärzte“ (Ästhetische Theorie 1970, 19).

In dem folgenden bissigen Aphorismus entlarvt Kraus die Lehre Freuds durch ihre eigene Methode, um zu zeigen, wie plump und primitiv sie ist: „Eine gewisse Psychoanalyse ist die Beschäftigung geiler Rationalisten, die alles in der Welt auf sexuelle Ursachen zurückführen mit Ausnahme ihrer Beschäftigung.“

Der Spruch erklärt übrigens auch, warum diese Art der Psychologie gerade in puritanischen Gesellschaften, etwa in Amerika, sich durchsetzen konnte. Sie erlaubt es, in guter Gesellschaft oder überhaupt über Themen zu sprechen, die sonst tabu sind.

Die drei Vorwürfe, die Kraus der modischen Seelenlehre macht, sind in dem Satz enthalten: "Die Psychoanalytiker, der Auswurf selbst dieser Menschheit, ein Beruf, in dessen Namen schon die Psyche mit dem Anus verbündet erscheint, sind in Gruppen geteilt, die jede zur Vertretung ihrer Sonderart, Gott zu lästern, die Natur zu schänden und die Kunst zu erklären, ihre eigene Zeitschrift unterhält."

In den siebziger Jahren erstand dann eine radikale Gegenbewegung, die Antipsychiatrie, die vor allem gegen die geschlossenen Anstalten für psychisch Kranke gerichtet war und verlangte, daß diese Menschen ins normale Leben entlassen werden sollten. Als ich 1976 in einer Zeitschrift einen Aufsatz über Kraus veröffentlichte und seine Kritik an der Psychoanalyse erwähnte, schrieb mir ein Vertreter der Antipsychiatrie, der mehr über das Thema bei Kraus wissen wollte (J.Q., Die Schwierigkeit, Karl Kraus zu verehren) — Daß Kraus, wie übrigens auch Kurt Tucholsky, auch ein engagierter Kritiker der Justiz seiner Zeit war, sei nur am Rande vermerkt.

Ich könnte noch vieles über das Thema schreiben, vor allem über den fatalen Einfluß Freuds auf die Literatur. Hier wäre das Urteil Thomas Manns interessant, der ein Verehrer Freuds war, aber durch bestimmte, augenscheinlich absurde Arbeiten mancher Psychoanalytiker von dieser Lehre geradezu angewidert wurde.

Ich habe eine Studie gelesen, wo psychoanalytisch erklärt wird, warum Simenon ein neues Mercedes-Coupé gekauft hat — völlig albern! Simenon hat seine Kritik an der Tiefenpsychologie vor allem durch den Mund Maigrets, der Stimme des gesunden Menschenverstandes, geäußert und von einem Inspektor erzählt, der vorgab, alle Fälle durch die Psychoanalyse erklären zu können und sich immer täuschte (J.Q., Die Grenzen des Menschlichen, S.43). Er hat seine Meinung aber auch selbst deutlich ausgesprochen. Wenn er von einer wissenschaftlichen Arbeit über sein Werk sagt, daß sie „von falschem Freudismus nur so trieft“, dann meint er damit nicht, daß es auch einen wahren Freudismus gebe, sondern daß die Lehre Freuds an sich falsch sei (Als ich alt war S.94).

Subtil, aber recht wirksam ist Koeppens Kritik an der dubiosen Lehre ausgefallen. Philipp, Schriftsteller und Hauptfigur in Tauben im Gras, lehnt es ab, sich sein Schuldbewußtsein psychoanalytisch wegtherapieren zu lassen (J.Q., Wolfgang Koeppen, S.133).

In den Lehrjahren (S.213) habe ich erwähnt, wie die Irrlehre C.G. Jungs einen mir bekannten mystischen Theologen in die Irre geführt hat. Er hat seine religiösen Erlebnisse in dessen Sinn gedeutet und nicht gemerkt, daß sie dadurch gründlich verfälscht wurden.

Dieses Problem, daß die persönlichen Erlebnisse durch die vorgefertigten Deutungsmuster der Tiefenpsychologie verfälscht werden und der Mensch auf diese Weise behindert wird, überhaupt echte subjektive Erfahrungen zu machen, war das Thema, das Adorno entdeckt und großartig erklärt hat. Ich habe es in dem Buch über das Ethos von Intellektuellen (S.53ff.) ausführlich besprochen.

Das ist es, was ich noch sagen wollte.

J.Q. — 26. März 2021

© J.Quack


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