Josef Quack

Fehler im Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1998)

— Fortsetzung



Können Sie sich vorstellen, wie traurig man sein mußte, um ein Lexikon zu verfassen?

E. Littré

In den „Marginalien zum Wörterbuch der philosophischen Begriffe" (cf. J.Q., Wenn das Denken feiert, S.167ff.) habe ich eine stattliche Liste von Fehlern und Lücken in jenem Lexikon verzeichnet. Als ich kürzlich das Wörterbuch wieder in die Hand nahm, fielen mir wieder ein paar Fehler und Irrtümer auf, die ich im folgenden angebe und kurz bespreche. Bekanntlich werden von allen Publikationen die Wörterbücher und Lexika am seltensten rezensiert, d.h. sie werden gewöhnlich überhaupt nicht kritisch überprüft, obwohl sie doch häufig und für längere Zeit benutzt und konsultiert werden. Es kann deshalb niemals falsch sein, wenn man sie sorgfältig liest und, wenn nötig, auf ihre begrifflichen Mängel hinweist.

authentisch (87) — „Eine a.e Auslegung eines Gesetzes, einer Schriftstelle ist eine solche, die durch den Gesetzgeber oder Verfasser selbst gegeben ist oder mit dessen Worten oder in dem von ihm jeweils gemeinten Sinn ausgedrückt wird.“ Diese Erklärung stimmt nur zur Hälfte, nämlich im Hinblick auf den Gesetzgeber, nicht aber im Hinblick auf den literarischen Autor. Der Kommentar eines Autors ist keineswegs eine authentische Auslegung seines literarischen Textes, da man zwischen der intentio auctoris, zwischen dem Sinn, den der Autor im Werk ausdrücken wollte, und der intentio operis, dem Sinn, der tatsächlich im Werk ausgedrückt ist, immer unterscheiden muß. Eine authentische Auslegung eines literarischen Textes ist eine Auslegung, die den Sinn des Textes richtig wiedergibt — was bei einem Selbstkommentar des Autors keineswegs zwangsläufig immer gegeben ist. Der Selbstkommentar des Autors hat keinen erkenntnistheoretischen oder hermeneutischen Vorrang vor dem Kommentar der anderen Interpreten.
So erkärt Gadamer zu Recht: „Die moderne Mode, die Selbstinterpretation eines Schriftstellers als Kanon der Interpretation zu verwenden, ist eine Folge eines falschen Psychologismus“ (Wahrheit und Methode 1965, 181). Cf. dazu auch die kristallklare Erklärung Paul Valérys: „Wenn ein Werk erschienen ist, hat seine Interpretation durch den Autor nicht mehr Wert als jede andere, von wem sie auch sei. / Wenn ich das Porträt von Peter gemacht habe, und wenn jemand findet, daß mein Werk mehr Jakob als Peter gleicht, kann ich ihm nichts entgegensetzen — und seine Behauptung ist so viel wert wie meine. / Meine Intention ist nur meine Intention und das Werk ist das Werk.“ (Œuvres 2,557; Paris 1960)

Denotation/Konnotation (142) — "D. bezeichnet den inhaltlichen Kern eines Ausdrucks, K. die mit ihm verbundenen subjektiveren Assoziationen." Diese Erklärung ist teils unbefriedigend, teils falsch. Die hier gemeinte begriffliche Opposition wurde von J.S.Mill eingeführt, der schreibt: "Das Wort 'weiß' denotiert alle weißen Dinge wie Schnee, Papier, Meeresschaum usw. und impliziert oder konnotiert das Attribut des Weißseins." (Zitat bei J.Lyons, Semantik 1980, 188). Das heißt, wie W. Künne präzisiert: "Ein genereller Terminus 'F' konnotiert eine Eigenschaft X genau dann, wenn man einem Gegenstand mit 'F' + Kopula die Eigenschaft X zuschreiben kann." (Künne, Abstrakte Gegenstände 2007, 335; cf. J.Q., Wenn das Denken feiert, S.179ff.) — Die umgangssprachliche Bedeutung der Konnotation ist im Fremdwörterbuch des Duden angegeben: damit ist die emotionale oder expressive Nebenbedeutung oder Färbung eines Begriffes gemeint, d.h. die die Grundbedeutung eines Wortes begleitende Vorstellung; z. B. "Mond" (Grundbedeutung: Erdtrabant) vs. "romantisch, kühl" u. ä (Konnotation). Die Konnotation ist also keine subjektive Assoziation, sondern eine objektiv im allgemeinen Sprachgebrauch implizierte Nebenbedeutung.

Frömmigkeit (gr. eusebeia, ‚gedeihlich’) (230) — „In der Antike urspr. nur die Fähigkeit und Bereitschaft zur Erfüllung moralischer und kultischer Pflichten. […] Im Christentum besteht die F. in der Beziehung alles Seins und Geschehens in Natur, Geschichte und persönlichem Leben auf Gott.“ Das griechische Wort ist ein Substantiv, kein Adjektiv, und es ist schleierhaft, wieso es ‚gedeihlich’ bedeuten soll, was nach den großen griechischen Wörterbüchern von Pape oder Schenkl einfach nicht zutrifft. Es wäre möglich, daß die philosophischen Lexikographen eusebeia mit eudaimonia (Wohlstand, Gedeihen) verwechselt haben. Eusebeia heißt aber Frömmigkeit, Gottesfurcht. Der letzte Satz des Zitats ist nur dann richtig, wenn man Beziehung aktiv versteht als eine Bezugnahme, die aus einer religiösen Einstellung hervorgeht.

Glaube (263) – Der Artikel ist einigermaßen verwirrend, weil nicht von Anfang an, sondern erst am Ende zwischen "glauben" im christlich-religiösen Sinn und "glauben" im umgangssprachlichen Sinne unterschieden wird. Historisch und sachlich falsch ist die folgende Behauptung: „Für die strenge Unterscheidung von G. und Wissen mußte sich erst über gesellschaftliche Veränderungen (…) ein Bewußtsein für den qualitativen Unterschied von Wissensformen entwickeln.“ Schon Paulus, dann die Kirchenväter und in klassischer Form schließlich Thomas von Aquin haben zwischen dem Glauben im religiösen Sinn und dem Wissen, dem Licht der natürlichen Vernunft, strikt unterschieden. Cf. J. Pieper, Über den Glauben (1962), H. Schnädelbach, Grundwissen Philosophie: Vernunft (2007), (cf. J.Q., Zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert, S.111ff.)

Ockhamsches Rasiermesser (467) — Damit soll laut W. Hamilton (1852) die theoretische Forderung gemeint sein, "nur solche Begriffe und Entitäten zuzulassen, die der natürlichen Vernunft oder der Erfahrung zugänglich sind". Dies ist aber keineswegs die Bedeutung, die man heute allgemein mit dem Ausdruck verbindet; diese wird immerhin im folgenden Hinweis auf "den sparsamen Umgang mit Begriffen und theoretischen Erklärungen" wenigstens angedeutet. Auch ist die übliche Formulierung des Grundsatzes hier nicht angegeben; sie lautet: "Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem", und bedeutet, daß man ohne zwingenden Grund die Seienden in einer Theorie nicht vermehren soll.

post hoc, propter hoc (510) — „Formel für den Schluß, durch den von der zeitlichen Aufeinanderfolge auf eine ursächliche Verknüpfung gefolgert wird (was nicht immer richtig ist).“ Man ist versucht, diese Erklärung als typisch für die übervorsichtige Mentalität der Lexikographen zu bezeichnen. Sie ist aber nicht nur übervorsichtig, sondern eindeutig falsch. Denn die Verwechslung einer zeitlichen Folge mit einer kausalen Folge ist immer falsch. Wenn ein zeitliches Nacheinander in bestimmten Fällen einer Folge von Ursache und Wirkung entspricht, so ändert das nichts daran, daß man die zeitliche Beziehung von der kausalen Beziehung unterscheiden muß. Jenes Diktum ist ein Fehlschluß aus der Beobachtung, daß die Wirkung in der Regel der Ursache zeitlich folgt. — Ein typisches Beispiel für diesen Fehlschluß ist das folgende:

Nach dem Krieg kamen immer weniger Störche ins Elsaß.
Zugleich kamen auch immer weniger Kinder auf die Welt.
Also ist zumindest für das Elsaß erwiesen, daß der Storch die Kinder bringt.

praeambula fidei (516) "mlat. 'Glaubensvoraussetzung'; scholastische Bezeichnung für Erkenntnisse, die den Glauben begründen oder befördern können." — Es ist nicht richtig, daß die Erkenntnisse der praemabula fidei den Glauben, im christlichen Sinn verstanden, genau genommen begründen, d.h. durch rationale Argumente als wahr erweisen. Sie sind vielmehr die mit der natürlichen Vernunft erkennbaren Voraussetzungen des Glaubens, die zeigen, daß es in bestimmter Hinsicht nicht unvernünftig ist, im christlichen Sinn zu glauben. Die wichtigsten Thesen der praeambula fidei sind die natürliche Erkenntnis, daß Gott die Welt geschaffen hat, und die historisch nachweisbare Erkenntnis der Existenz Jesu Christi und seiner zentralen Botschaft. (cf. Rahner, Vorgrimmler, Kleines Theologisches Wörterbuch 1976, 343f. u. 154).

prälogisch (519) — Richtig ist nur die Worterklärung, nicht jedoch die Behauptung, daß man bei Naturvölkern "einen alogischen bzw. irrationalen (z.B. an metaphorischer Redeweise orientierten) Sprachgebrauch feststellen konnte." Die These von dem prälogischen Denken der Naturvölker wurde von dem Ethnologen und Philosophen Lucien Lévy-Bruhl zuerst 1910 aufgestellt, von Karl Bühler und Willard van Orman Quine jedoch mit linguistischen und logischen Argumenten überzeugend widerlegt (cf. J.Q., Ethnologische Fragen in philosophischer Sicht, S.146ff.). Außerdem ist die pauschale Annahme des Wörterbuchs falsch, daß eine metaphorische Redeweise irrational sei. Nicht der Gebrauch von Metaphern macht eine Rede irrational, sondern der Verstoß gegen die Grundsätze der Logik.

raisonnieren (544) — „auch (und meist) in abfälligem Sinne svw. vernünfteln“, was keineswegs richtig ist; vielmehr wird das Wort nur gelegentlich, in besonderen Fällen, abwertend und verächtlich gebraucht. Übrigens schreibt sich laut Duden das Wort ‚raisonieren’.

Schmerz (585) — „Im ursprünglichen leiblichen Sinn die durch die Erregung sensibler Nerven hervorgerufene Empfindung, die sich von den Sinnesempfindungen dadurch unterscheidet, daß sie nur auf den eigenen Körper bezogen wird.“ Diese Erläuterung setzt voraus, daß man die genaue Bedeutung des Wortes schon kennt. Informativer ist die Eintragung in Wahrigs Wörterbuch der deutschen Sprache: „unangenehme, peinigende körperliche Empfindung“. Außerdem ist für das philosophische Wörterbuch höchst bezeichnend und verräterisch, daß seine Paraphrase nur auf den körperlichen Schmerz, nicht aber auf den seelischen Schmerz bezogen ist, der, wie wohl jeder weiß, gelegentlich den körperlichen Schmerz überlagern und zum Verstummen bringen kann.

Es scheint, daß diese Philosophieprofessoren von der Seele nicht viel halten, und diese Vermutung wird durch den langen, unübersichtlichen und ungegliederten, eher kursorisch als präzis definierend verfahrenden Artikel über die Seele keineswegs widerlegt. In der für das Wörterbuch typischen undeutlichen Art heißt es etwa, daß sich die mittelalterlichen Philosophen „mehr oder weniger eng in der Bestimmung des Wesens der Seele an Aristoteles angeschlossen“ hätten (592). Es wird jedoch keine einzige Definition jener Philosophen zitiert, die es erlauben würde, diese Behauptung zu kontrollieren. Der begriffsgeschichtliche Überblick endet bei J.F. Herbart. Die einflußreichen kritischen Explikationen Kants, Schopenhauers und Nietzsches werden nicht erwähnt — eine durch nichts zu rechtfertigende Lücke der Information.

Selbstbewußtsein (596) – Die magere historische Skizze der Auffassungen geht bis zu Hegel. Von Schopenhauers und Nietzsches Ansicht zum Thema ist nicht die Rede, auch nicht von den neueren und aktuellen Diskussionen über die Sache. Cf. E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (1979), M. Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis (1991).

Sublimierung (639) – Referiert wird die Sublimationstheorie der Psychoanalyse, d.h. „die unbewußte Auswirkung der ‚Energien’ des unmittelbar nicht zugelassenen Trieblebens in verfeinerter, vergeistigter Form“, ohne daß die vernichtende Kritik dieser unwissenschaftlichen, zusammenphantasierten Pseudoerklärung auch nur mit einem Wort erwähnt würde. Der Artikel folgt der Tendenz des Wörterbuchs, das die von Wittgenstein und Popper nachgewiesene Unwissenschaftlichkeit der Psychoanalyse an keiner Stelle auch nur zur Kenntnis nimmt, geschweige denn gründlich erörtert. Schon Karl Kraus hat Freuds primitive Auffassung vom künstlerischen Schaffen derb verspottet und Adorno hat, durchaus in der geistigen Nachfolge von Kraus, die Einstellung jener Sublimationstheoretiker treffend als „die Banausie kunstsinniger Ärzte“ bezeichnet (Ästhetische Theorie 1970, 19).

Sünde (642) — „Grundbedeutung wahrscheinl. ‚Verhalten, dessen man sich zu schämen hat’. Nach jüdisch-christlicher Auffassung ist die S. verursacht durch den Sündenfall des ersten Menschen.“ Eine überaus magere, informativ ärmliche Auskunft. Was hier Grundbedeutung heißt, gilt offensichtlich nur für das mittelhochdeutsche Wort, nicht für das heute gebräuchliche hochdeutsche Wort. Dessen Bedeutung wird wiederum stillschweigend vorausgesetzt. Das Wort hat eine religiöse Denotation, die bei Wahrig wiederum klar und eindeutig angegeben ist, wo die Sünde als „Verfehlung gegen die Gottheit oder ihr Gebot“ definiert wird. Im übrigen kann man sich für viele Handlungen schämen, die nicht im geringsten sündhaft, aber in wissenschaftlicher Hinsicht doch unverzeihlich sind, z. B. für falsche, ungenaue und ungenügende Angaben in einem Wörterbuch.

J.Q. — 29. Sept. 2015, ergänzt am 15. Aug. 2017

© J.Quack


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