Josef Quack

Eine Art, Literatur zu verstehen

Rez.: Wolfgang Detel, Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes. Exemplarische Interpretationen poetischer Texte. Frankfurt: Vittorio Klostermann 2016.



Man muß Hypothesen und Theorien haben, um seine Kenntnisse zu organisieren, sonst bleibt alles bloßer Schutt, und solche Gelehrten gibt es in Menge.

G. Ch. Lichtenberg

Wolfgang Detel, emeritierter Philosophieprofessor aus Frankfurt, macht es den Lesern dieses Buches nicht gerade leicht. Das fängt damit an, daß er sie oft ignoriert und ausschließlich die Leserinnen oder Interpretinnen anspricht. Gelegentlich heißt es sogar „wir Leserinnen“, und er schreibt die feministische Anredeform auch E.T.A. Hoffmann zu, was schlicht falsch ist; denn Hoffmann redet nach der bekannten Konvention den „Leser“ an. Nach dieser Konvention ist „der Leser“ ein Funktionswort – der Artikel bezeichnet das grammatische Geschlecht, nicht, wie Detel unterstellt, das natürliche Geschlecht. Die feministische Anredeform, ob ernst oder ironisch gemeint, ist hochgradig albern und verdirbt den ganzen Text.
Hinzukommt Detels fatale Vorliebe für einige störende Anglizismen wie Referenz (Bezugnahme), Phrase (Ausdruck), Farm (Bauernhof), Proviso (Vorbehalt), Evidenz (Beweismaterial), parsen (intuitiv verstehen), Gedankenlesen (Fremdverstehen, das Verstehen anderer Intelligenzen), sich anfühlen (selbst erleben), Sinn machen. Auch spricht er von „style indirect libre“, wo der deutsche Begriff der erlebten Rede präziser und verständlicher wäre. Er bevorzugt einen umständlichen Fachjargon, der mitunter recht Triviales ausspricht: „So beeinflußt zum Beispiel die zentrale Präferenz die Situationsbewertung“ (S. 133), d.h. wie man eine Situation bewertet, hängt von dem ab, was man bevorzugt. Oder: meine Vorliebe bestimmt mein Werturteil. Das Diktum unterschlägt, wie sofort ersichtlich, daß man seine Vorlieben und Wünsche auch kritisch betrachten und deshalb eine Situation durchaus auch realistisch oder objektiv einschätzen kann. Außerdem erläutert Detel nicht selten wichtige Begriffe in Fußnoten statt im Haupttext seiner Argumentation. Schließlich macht es sich nicht gut, daß er wissenschaftliche Texte auf englisch anführt, Zitate aus der Romandichtung Madame Bovary aber auf deutsch – was übrigens auf eine kapitale Schwäche seiner Interpretation verweist, ignoriert sie doch schlicht den Kunstcharakter dieser Romanprosa.
Dies alles ist sehr zu bedauern, denn diese Studie ist trotz dieser Einschränkungen in bestimmter Hinsicht eine anregende, aufschlußreiche, manches einschlägige Problem klärende Arbeit über die Methode und die Implikationen des literarischen Verstehens. Das Buch enthält in thematischer Hinsicht zwei Hauptstücke: einen Interpretationsteil und einen theoretischen Teil. Detel legt Interpretationsskizzen von vier dichterischen Werken vor: von einem Gedicht Sapphos, einem Naturgedicht Goethes, von E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ und dem Roman Gustave Flauberts Madame Bovary. Im theoretischen Teil behandelt er drei Themenkreise: Fragen der Literaturtheorie, Begriffe der Theorie des Geistes, wie er die Philosophie des Geistes nennt, die sich mit der Beziehung von Leib und Seele, Geist und Hirn befaßt, und Probleme der geisteswissenschaftlichen Methodologie.
Um das Fazit vorwegzunehmen, wäre zu sagen, daß nach meiner Ansicht von den Textauslegungen das Kapitel über Hoffmanns „Sandmann“ das gelungenste ist, weil die psychologische Erklärung Detels den Sinn der Erzählung recht genau beschreibt. Bei den Gedichtinterpretationen wird letzten Endes nicht recht klar, warum man die neueste Geisttheorie bzw. eine sogenannte "moderne" Auffassung vom Geist bemühen muß, um die Bedeutung jener Poeme zu erfassen, und was Flauberts Roman angeht, so hat Detel nur einen Aspekt, die seelische Entwicklung Emma Bovarys beschrieben, die Schilderung der Gesellschaft, die Art der Darstellung und den entscheidenden künstlerischen Charakter des Romans aber ganz ausgeblendet.
Von den theoretischen Ausführungen ist das Kapitel über die „hypothetisch-deduktive Methode und den Schluß auf die beste Erklärung in Literaturinterpretationen“ meines Erachtens zweifellos das erhellendste und brauchbarste. Die Erläuterungen zum Begriff des Geistes, des Verstehens und der Gefühle sind zwar zum Teil auch informativ, doch oft allzu spezialistisch beschränkt und nicht recht plausibel. Was der Autor zur Literaturtheorie ausführt, scheint mir nur in dem Abschnitt über die Definition der literarischen Fiktion anregend zu sein, obwohl er die pejorative Konnotation dieses Begriffs übersieht.
Im folgenden werde ich nun nicht die Kapitel im einzelnen besprechen oder zusammenfassen, sondern nur einige Anmerkungen zu Punkten machen, die mir aufgefallen sind. Auf den ersten Seiten findet sich ein Druck- oder Flüchtigkeitsfehler, der einiges über Detels Denk- oder Vorgehensweise verrät. Er spricht von "other-perspective-taking" und "self-perspective-taking", natürlich ohne die deutschen Begriffe der Eigenperspektive und der Fremdperspektive zu verwenden, und erklärt die wichtige Differenz in einer Fußnote. Dabei unterläuft ihm der Fehler, daß er beide Mal von "self-perspective-taking" spricht, wo an einer Stelle "other-perspective-taking" gemeint ist (S. 10).
Den Rhythmus und die Lautgebung als die musikalischen Aspekte der Dichtung zu bezeichnen, kann leicht in die Irre führen, wie man in jedem besseren Literaturhandbuch nachlesen kann. Außerdem, was hat man für das Verständnis eines Gedichtes, das die rhetorische Figur der Personifikation enthält, denn eigentlich gewonnen, wenn man weiß, daß beim Verstehen dieser Figur bestimmte neurophysiologische Prozesse im Hirn ablaufen? So gut wie nichts.
Dagegen kann ich Detel voll und ganz zustimmen, wenn er die Psychoanalyse nicht als eine psychologische Theorie im wissenschaftlichen Sinn gelten läßt.
Bei der Erzählung und dem Roman beschränkt Detel sich auf die Analyse der Figurenpsychologie. Der wissenschaftliche Vorteil seines Verfahrens besteht darin, daß diese methodische Übersicht über die einzelnen Interpretationshypothesen es erlaubt, die Erklärung zu überprüfen und zu kritisieren. Dagegen leiden viele literaturwissenschaftliche Interpretationen bis heute darunter, daß sie zu vage und oft sogar nur metaphorisch formuliert sind, so daß man manchmal überhaupt nicht weiß, was denn der Interpret genau genommen behauptet. Ein weiterer Vorzug von Detels Ausführungen besteht darin, daß er erklärt, inwiefern es plausibel ist, von wahren und falschen Gefühlen zu sprechen.
Dagegen zeigt ein Flüchtigkeitsfehler wiederum, daß an dieser Stelle etwas nicht stimmen kann. Detel spricht von Ernst Auerbach, wo Erich Auerbach gemeint ist, und bringt ein unvollständiges Zitat, das nur die halbe Wahrheit eines Gedankens enthält (S. 127). Detel führt nur Auerbachs Meinung an, daß Flaubert keine „Verstehenspsychologie“ treibe, womit die akademische Disziplin gemeint ist; er versäumt es, den folgenden Satz zu zitieren, der belegt, daß Flaubert nach Auerbachs Ansicht durchaus die psychischen Phänomene seiner Figuren darstellt und gründlich behandelt, was ja wohl ein Verstehen impliziert: „Sachlicher Ernst, der bis in die Tiefe der Leidenschaften und Verstrickungen eines Menschenlebens einzudringen versucht“ (Auerbach, Mimesis, 1971, 457).
Wenn Detel sodann Flaubert einen „nüchtern-wissenschaftlichen Stil“ attestiert, verrät er eine Insensibiliät in stilistisch-rhetorischer Hinsicht, die man nicht für möglich gehalten hätte. Marcel Proust und Vladimir Nabokov haben auf die grammatische Schönheit von Flauberts Redeform hingewiesen und zu beschreiben versucht, warum bei ihm eine Kunstprosa in höchster Vollendung vorliegt – was alles mit nüchtern-wissenschaftlicher Diktion nichts zu tun hat.
Der Autor meint im Anschluß an einige zeitgenössische Schriftgelehrten, es sei ein „interpretatives Paradox“, daß wir ein Interesse für menschliche Figuren aufbringen, die fiktiv sind (S. 155). Mir scheint hier ein typisches akademisch-wissenschaftliches Scheinproblem vorzuliegen, das man nur paradox nennen kann, wenn man sich sehr dumm stellt. Denn wir lesen gerne Romane, nämlich Geschichten von erfundenen Figuren, weil diese Geschichten interessant und spannend und im Glücksfall auch gut erzählt sind, also ein ästhetisches Vergnügen bereiten, und dieses Vergnügen und der intellektuelle Gewinn sind um so größer, je lebenswahrer die Romanpersonen gezeichnet sind. Wir lernen in Romanen menschliche Verhaltensformen, geistige Einstellungen, kluge Gedanken und geistreiche Reden, eine sprachliche Kunst kennen, die uns die Alltagserfahrung nicht geben und die uns Tatsachenberichte nur in Ausnahmefällen vermitteln können. Außerdem kennen wir selbst die Lebensgeschichte unserer Bekannten meist nur aus zweiter Hand, nämlich Berichten, und diese sind selten so gut erzählt wie die Romane der Weltliteratur. Außerdem ist es ein Gemeinplatz, daß die Gefühlsbildung des Bürgertums seit der Aufklärung hauptsächlich durch die Literatur, Romane, Dramen und Gedichten erfolgte. Auch hat Helmut Plessner seinerzeit darauf aufmerksam gemacht, daß die Psychologie wohl die Leidenschaften analysieren kann, daß sie jedoch nur mit dichterischen Mitteln dargestellt werden können.
Detel verweist auf empirische Untersuchungen, die ergeben hätten, daß fiktionale Literatur über fremde Kulturen das Verständnis für diese Kulturen fördern und die Disposition zur Fremdenfeindlichkeit abbauen könne (S. 158). Hier fühlt man sich an Niklas Luhmann erinnert, der gelegentlich über soziologische Studien gespottet hat, die umständlich eruieren, was der gesunde Menschenverstand eh schon wußte. Außerdem ist wohl evident, daß jene Untersuchung im Kern auf ein politisch korrektes Plädoyer für Romane nach Art von Onkel Toms Hütte hinausläuft, worüber wiederum Nabokov mit Recht gespottet hat.
Beipflichten kann man Detel wiederum darin, daß er sich viel darauf zugute hält, daß er das automatische oder intuitive Verstehen sprachlicher Äußerungen, das er Parsen nennt, genau untersucht und beschrieben hat. Er hat die Momente des semantischen und syntaktischen Verstehens aufgewiesen und die kommunikativen Maximen erläutert, die dabei ins Spiel kommen (S. 185). In der Tat ist dies einer der informativsten Abschnitte seiner Studie. Plausibel ist auch, daß er das automatische sprachliche Verstehen von der Interpretation als einer Form der Erklärung unterscheidet.
Zu dieser Differenzierung und zum hermeneutischen Problem im allgemeinen möchte ich bemerken, daß sowohl Karl Bühler als auch Hans Georg Gadamer und Karl Popper zu Fragen des intuitiven sprachlichen Verstehens ähnliche, zum Teil weiterführende Überlegungen angestellt haben. Zweitens entspricht die Unterscheidung zwischen intuitivem Verstehen und erklärender Auslegung offensichtlich der Auffassung der traditionellen Hermeneutik, die zwischen einer subtilitas intelligendi und einer subtilitas explicandi unterschieden hat (Gadamer, Wahrheit und Methode, 1965, 291). Bezeichnend ist, daß Detel die weitere hermeneutische Phase der subtilitas applicandi nicht behandelt. Auch fällt auf, daß er die außerordentlich hilfreiche begriffliche Unterscheidung zwischen der intentio auctoris und der intentio operis nicht zu kennen scheint. Gemeint ist die Absicht des Autors, insofern sie in seinen expliziten Äußerungen über sein Werk ausgesprochen ist, und die Intention, die tatsächlich im Werk realisiert und erkennbar ist.
Was Detel zur Theorie des Geistes ausführt, ist in den Abschnitten über Gefühle und Emotionen durchaus erhellend. Was er jedoch zum Begriff des Bewußtseins erklärt, ist mehr als unzulänglich; ich kann zu diesem Thema nur auf das Buch von Popper und John Eccles über den selbstbewußten Geist Das Ich und sein Gehirn verweisen, dessen philosophische und grundsätzlich wissenschaftliche Argumente nach wie vor gültig sind (cf. auch J.Q., Zur Diskussion über das Leib-Seele-Problem). Was Detel abschließend über den Geist in der Natur schreibt, ist reine Spekulation.
Schließlich räumt er – wiederum in einer Fußnote – ein, daß sein Ansatz der Textinterpretation einen empfindlichen Mangel aufweist, insofern er zur objektiven Beurteilung der künstlerischen Qualität von Kunstwerken nichts beitragen kann (S. 222). So ist es. Einem Autor, der seine Grenzen kennt, kann man den Respekt nicht versagen.

J.Q. — 20. Juli 2017

© J.Quack


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