Josef Quack

Über Helmut Kohl, Kanzler der Einheit

Der Spiegel Biografie, Nr. 3/2017



Er organisiert seinen Kampf
um das Teewasser
und um die Macht im Staat.

B. Brecht

Treulos will ich nicht befunden sein.

Antigone, Sophokles

Dieses Sonderheft sagt mehr über den Spiegel aus als über Helmut Kohl, und das, was es über den Spiegel und über Kohl aussagt, ist nicht neu. Ich kann mich also kurz fassen.
Eingeleitet wird das Heft von einem jüngeren Spiegel-Autor, der seine politische Sozialisation in der Ära Kohl erfahren hat. Der mehrseitige Erlebnisbericht ist nicht nur einfältig, sondern auch ausgesprochen kitschig und mit Klischees durchsetzt: „Ich hätte damals gern einen Kanzler gehabt, auf den ich stolz sein konnte, einen, der cool und lässig war, einen Mann, der eine gewisse Weltläufigkeit besaß oder wenigstens einen schicken Anzug. Die anderen hatten eine Eiserne Lady oder einen Hollywoodschauspieler an der Spitze ihres Landes. Wir hatten den Mann mit der Strickjacke.“ Naiver geht es wohl nicht; der Knabe kann sich nicht vorstellen, daß auch Reagan und Thatcher gelegentlich Wolljacken getragen haben.
Als ich bei diesem Bekenntnis politischen Unverstandes angelangt war, hatte ich von dem Sermon genug und ging zu den Artikeln älteren Datums über, zu den Beiträgen von Günter Gaus, der schon sehr früh in Kohl die Qualitäten eines Kanzlers entdeckt hatte, dem Bericht von Peter Brügge, der den Regierungsstil des Ministerpräsidenten und sein Charakterbild präzis beschreibt, und natürlich zu dem Beitrag von Rudolf Augstein, der den Politiker der Einheit würdigt, ein Kommentar, der fraglos die Pièce de résistance dieses biographischen Heftes bildet. Die Artikel intelligenter Redakteure und Mitarbeiter von ehedem zeigen, welche journalistische Qualität der Spiegel einmal hatte — lang, lang ist es her.
Freilich gab es auch damals schon Ausnahmen von der Regel des publizistischen Niveaus. Zum Beispiel den sprachkritischen Artikel von Helmuth Karasek über Kohls Sprechweise. Der Autor verstößt gegen den fundamentalsten Grundsatz der sprachkritischen Methode. Wer die Redeweise anderer Sprecher kritisiert, ist nur glaubwürdig, wenn er selbst ein vorbildliches, nicht nur korrektes, sondern auch unverkrampftes, wohl durchdachtes Deutsch schreibt. Davon aber kann bei Karasek nicht die Rede sein. Außerdem macht er zwei Kategorienfehler: er bedenkt nicht, daß die mündliche Rede nicht nur stilistisch, sondern auch grammatisch oft anders angelegt ist als die regelkonforme Schriftsprache, und er achtet nicht auf das Genre des Ausdrucks, die politische Rede, die mit ihren Wiederholungen, Vereinfachungen, Formeln und parataktischen Kurzsätzen völlig andere kommunikative Forderungen impliziert als eine Vorlesung oder ein Bühnenmonolog. Schließlich gelingt es dem gelernten Theaterkritiker nicht, aus der sprachkritischen Analyse, so man davon überhaupt reden kann, ein politisches Resümee zu ziehen, das nicht schon vorher festgestanden hätte. Wozu also die Mühe der sprachlichen Untersuchung?
Dieser Beitrag bestätigt zudem die Beobachtung, daß das Magazin nach der Dienstzeit von Walter Busse und Rolf Becker kaum noch über ein nennenswertes literarisches Urteilsvermögen oder eine wirkliche literaturkritische Kompetenz verfügte, und dieser Mangel besteht nun schon seit Jahrzehnten. Daß auch andere Intelligenzblätter unter dem gleichen Defizit leiden, ist natürlich keine Entschuldigung.
Die Politiker, Oskar Lafontaine, Tony Blair, Jean-Claude Juncker, Roland Dumas, Edmund Stoiber, sind mit ihren Statements der politischen Leistung Kohls durchweg gerecht geworden, wenngleich man sich von ihnen eine ausführlichere Würdigung gewünscht hätte, da sie allesamt Profis in ihrem Fach sind.
Was die Politik angeht, so kann man dies gewiß nicht von Wolf Biermann sagen. Der alte Barde bemüht Hegel und die List der Vernunft, um die geglückte Wiedervereinigung zu erklären, wo doch nur ein Mann mit politischem Verstand die Situation und die Gunst der Stunde erkannt und das Glück bei der Locke gefaßt hat. Sie hätte singen, nicht reden sollen diese Seele, um gegen Hegel einmal Nietzsche zu bemühen.
Lafontaine teilt drei Beobachtungen über Kohl mit, die recht aufschlußreich sind. Er erinnert daran, daß Kohl Gorbatschow zunächst mit Goebbels verglichen hatte, später aber eine gute Beziehung zu ihm herstellen konnte — ein diplomatisches Kunststück ohnegleichen. Dann zitiert er Kohl, der sich gegen die Sparpolitik Schröders aussprach: „Ich hätte mich nie getraut, einen solchen Sozialabbau auf den Weg zu bringen. Alle Sozen und Gewerkschafter wären gegen mich auf die Straße gegangen.“ Und zu der trügerisch einfachen Sprache Kohls bemerkt Lafontaine: „Er gehörte zu den wenigen Menschen, deren sprachliches Ausdrucksvermögen ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht wiedergibt.“ Was heißen soll, daß Kohl weitaus besser denken, als sich sprachlich ausdrücken konnte.
Doch meine ich, daß dies bei sehr vielen Menschen, nicht nur bei den allermeisten sogenannten einfachen Leuten, sondern auch bei vielen Wissenschaftlern, der Fall ist: sie können besser denken als sprechen, während das Umgekehrte — besser sprechen als denken zu können — das typische Merkmal der Schwätzer, vieler Intellektueller und Politiker ist. Aus heutiger Sicht ist kurios, daß Schröder, unter dessen Regime seine Partei zig Millionen Wähler verloren hat, wieder aus der Versenkung geholt und auf Parteitagen beklatscht wird — diesen Genossen ist nicht zu helfen.
Kohl hatte übrigens als Politiker genau die Eigenschaften, die Lafontaine in diesem Fach zu einem größeren Erfolg auf Bundesebene fehlten: unbeirrbarer Ehrgeiz, Schwerkraft und Beharrungsvermögen, historischer Sinn und die Überzeugung, daß der Politik der Primat vor der Ökonomie gebührt. Die Politik war sein Lebenssinn und Lebensinhalt. In einem Punkt kamen die beiden Politiker sich allerdings ziemlich nahe. Die "saarländische Lebensfreude" (Ludwig Harig) des einen unterscheidet sich nicht wesentlich, sondern nur dem Grade nach von der gargantuesken Genußfähigkeit des anderen. Ein Spiegel-Titel hatte Lafontaine einmal als Napoleon von der Saar dargestellt — nichts hatte sich als falscher erwiesen als dieser Vergleich. Napoleon ist erst geflohen, als er besiegt war. Lafontaine aber hat fluchtartig das Panier ergriffen, bevor er besiegt war. Freilich läßt sich über die politische Einstellung, die ausschlaggebenden Motive eines Mannes schwer urteilen, auf den ein lebensgefährliches Attentat verübt worden war.
Die Mitte und den Höhepunkt des Heftes aber bildet der Kommentar, den Augstein am 23. 7. 1990 nach dem historisch bedeutsamen Treffen Kohls mit Gorbatschow im Kaukasus schrieb: „Mehr Ruhm kann man als deutscher Kanzler nicht ernten, auch wenn die Präsidenten Bush und Gorbatschow sowie die beiden Außenminister Schewardnadse und Genscher kräftig mitgeholfen haben. / Niemand konnte ihm die Entscheidung abnehmen, ob er nach dem Fall der Mauer auf den abfahrenden Zug aufspringen und das Tempo beschleunigen sollte; niemand, ob er sich souveräne Rechte herausnehmen durfte, die ihm erst noch gewährt werden müßten. / Riskante, kritikwürdige Entscheidungen, aber alles hat funktioniert.“
Diesem nicht mehr zu übertreffenden Lob eines Staatsmannes, dem Augstein Glück wünschte, hat der Spiegel hinzuzufügen vergessen, daß Augstein sich nicht nur an die Leser und Abonnenten des Magazins wendet, sondern auch an die eigenen Redakteure, die in jenen Monaten alles andere als glühende Befürworter der Wiedervereinigung waren.
Der Spiegel aber wäre nicht der Spiegel, wenn er nicht gelegentlich Kohls Verdienste um die Wiedervereinigung in Frage gestellt hätte, so z. B. in einem Artikel vom 8.6.1998, wo es heißt: „Der Regierungschef erwies sich nicht nur als weitblickender Stratege, wie er es selbst darstellt, sondern als Zauderer und Zögerer.“ Der zweite Halbsatz ist aber keineswegs neu und Kohl hat die Wahrheit des Halbsatzes längst selbst eingeräumt und zwar schon in einer Fernsehsendung am 19. Juni 1990: „Als er im November seine Zehn-Punkte-Rede im Bundestag gehalten habe, sei er noch von einem Zeitraum bis 1993/94 ausgegangen.“ (Horst Teltschik, 329 Tage, 1991, 278). Damit ist die Glaubwürdigkeit des Artikels in einem Kernpunkt erschüttert; doch habe ich darauf verzichtet, auch die übrigen Behauptungen, die mir fragwürdig erschienen, zu überprüfen.
Natürlich durfte in dem Chor der kritischen Beiträge nicht eine Stimme jener uneinsichtigen Zeitgenossen fehlen, die es auch post festum nicht vermochten, Kohls singuläre Leistung anzuerkennen. Diesen Part übernimmt hier sinnigerweise Klaus Harpprecht. Man kann sich nur wundern, wie ein gebildeter Mensch in politischen Dingen so verblendet sein kann wie er. Aber genau das ist der Haken, der recht kümmerliche Bildungsbegriff des Schöngeistes. Er meint anscheinend, daß ein Politiker die Sprachkenntnisse eines Oberkellners haben müßte, um etwas ausrichten zu können, und er übersieht offensichtlich, daß zur authentischen Bildung seit je historische Kenntnisse, seit den Katastrophen des letzten Jahrhunderts auch politisches Wissen gehören, just jene Themenkreise, in denen Kohl sich auskennt, von denen Harpprecht aber wenig versteht. Sonst hätte er vom Kanzler der Einheit nicht nur in einem einzigen Nebensatz gesprochen und sich geweigert, Kohl den gleichen Rang wie Adenauer und Brandt zuzubilligen. Was für ein kleiner Geist! Aber wenn er Brandt, dessen Redenschreiber er einmal war, lobt, lobt er auch sich selbst. Was für ein eitler Kopf! "Es hat einer gerade soviel Eitelkeit, wie ihm an Verstand fehlt", heißt es bei Nietzsche.
Schließlich wird in dem Heft auch an die Spendenaffäre und die schwarzen Kassen in der Partei des ehemaligen Kanzlers erinnert, in einem wie üblich reißerisch formulierten Artikel (6/2000). Zu Kohls Haltung heißt es aber einigermaßen sachlich: „Stur behielt er die Namen jener Spender für sich, die ihm nach eigenem Eingeständnis 1,5 bis 2 Millionen Mark zukommen ließen“. Es ist dann nur noch von seinem „Beharren auf dem Ehrenwort“ die Rede, ohne daß sein Verhalten mit dem Hinweis auf die Gesetzeslage eigens getadelt würde.
In dieser Hinsicht hebt sich der Artikel wohltuend von jenen Nachrufen ab, in denen einige Journalisten Kohl immer noch seine moralische Entscheidung in jener Affäre zum Vorwurf machten. Staatsgläubig und rechtspositivistisch wie diese Medienfiguren sind, stellen sie die Befolgung staatlicher Gesetze höher als die Orientierung an den Grundsätzen einer allgemeingültigen Moral. Ein erschütternder Befund, der nicht nur jene nachrufenden Journalisten betrifft, sondern hauptsächlich auch jene Parteifreunde, die wegen seiner moralischen Entscheidung von Kohl damals abrückten. Ihrer zur Schau getragenen Gesetzestreue fehlt das Fundament einer glaubwürdigen ethischen Begründung.

J.Q. — 5. Aug. 2017

© J.Quack


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